Religionslehrer-Fortbildung Untermarchtal 2013

E-Ducatio

I
Ich bin zwar nicht vom Fach, aber meine letzte Begegnung mit dem Thema Religionspädagogik liegt noch gar nicht so lange zurück: Ich war Anfang September in Apulien, dort feiert man zwischen dem 08. und dem 15. des Monats, also Mariä Geburt und dem Fest der Sieben Schmerzen Mariens ein „Settenario Mariano“, also eine Marien-Festwoche: Klar, täglich Hochamt mit Weihrauch, abends Rosenkranz vor ausgesetztem Allerheiligen und dann Vesper mit Predigt.

Gleich am ersten Tag war ich, fromme bayerische Priesterseele, die ich halt bin, abends dabei. Der junge Kaplan legte sich bei der Vesper mächtig ins Zeug, predigte bei gefühlten 30 Grad Scirrocco-Luft geschlagene, objektiv gemessene 35 Minuten über das Thema: „Maria e l’ educazione“, Maria und die Erziehung. Das knifflige Problem, das er aufzulösen suchte, war dabei, dass natürlich im Fall der Heiligen Familie die zweite innertrinitarische Person von einem ihrer Geschöpfe erzogen wurde. Das hat was. Die elegant dialektische Lösung des jungen Mitbruders bestand darin, dass er durch die erzieherischen Maßnahmen, zu der sie durch das Jesus-Kind veranlasst wurde, in Wahrheit die Mutter Gottes als Adressatin göttlicher Pädagogik, also als Erzogene identifizierte. Wieder was gelernt, dachte ich mir. Aber ein Gedanke gefiel mir trotzdem: dass durch das Erziehen eigentlich nichts anderes geschehe, als dass das Geheimnis Gottes, das in jedem Menschen lebe, gleichsam herausgelockt und zu seiner Entfaltung ermutigt werde, beim Kind und beim Erwachsenen – ein Gedanke übrigens, der sich eins zu eins auch in den vor wenigen Tagen erschienenen Texten Jorge Mario Bergoglios aus seiner Bischofszeit in Buenos Aires findet.

II
Klar ist ein solches, im tiefsten Grund so platonisches wie fichteanisch-romantisches Erziehungsideal unendlich weit entfernt von der Schulrealität, die sie, die Lehrerinnen und Lehrer, tagein tagaus erleben, eingezwängt zwischen Bürokratie und Ideologie, Überevaluierung und Unterfinanzierung, nicht selten mit Kindern konfrontiert, denen die nötige Bergung in der Familie fehlt oder sie gar niemals haben kennen lernen können. Und dann noch die Kulisse des kirchlichen Arbeitgebers oder der oberhirtlichen Dienstaufsicht, die derzeit eher selten dazu angetan sind, hilfreich und entlastend zu wirken, um es vorsichtig zu sagen.

Und dennoch frage ich mich, ob nicht doch in jeder und jedem von Ihnen ein Körnchen jenes vorhin benannten Ideals lebendig sein muss, wenn sie Ihres Berufes froh bleiben oder froh werden möchten und ihn zugleich als so etwas wie eine geistliche Aufgabe, vielleicht sogar als Mission verstehen. Nicht zuletzt bestärkt mich in dieser Vermutung, dass die eher rustikale Mariologie und Erziehungslehre des apulischen Kaplans einen ganz erstaunlich Widerhall in Gedanken und Schriften des Erfinders der Pastoraltheologie, des großen Philosophen, Pädagogen und Predigers und späteren Bischofs von Regensburg Johann Michael Sailer findet. In dem riesigen Oeuvre dieses Briefpartners Kants und Freundes Schellings – es umfasst 33 Bände – , einem Denker, der zudem Vernunft und Gefühl, Aufklärung und Glauben bruchlos zusammenzubringen wusste, findet sich eine Unzahl aus tiefer Menschenkenntnis und Menschenliebe geborener Gedanken und Dicta zum Thema Erziehung. Etwa dies:
„Kein Mensch soll sich einem Kinde mit einem anderen als freundlichem Angesichte nähern.“
Oder in methodischer Perspektive:
„Seid selber, was ihr aus andern bilden wollt; das ist die ganze Erziehungsweisheit.“
Natürlich stand für Sailer die religiöse Erziehung im Zentrum seiner pädagogischen Bemühungen und Reflexionen:
„Wenn ein Menschenkind, wie sich ein Philosoph ausdrückt, erstens discipliniert, zweitens kultiviert, drittens zivilisiert und viertens moralisiert werden muß, so muß es fünftens auch divinisiert, das heißt zum göttlichen Leben gebildet werden, wenn ihm anders das höchste Leben, das eigentliche Leben im Menschenleben, nicht fehlen soll.“
Sailers unmittelbarer Zeitgenosse, der 17 Jahre nach ihm geborene und zwei Jahre nach ihm gestorbene nicht minder große Prediger, Philosoph, Theologe und Pädagoge Schleiermacher hat es fast wörtlich genauso gesagt. Man muss dazu nur seine zu Tränen rührende Predigt lesen, die er bei der Beerdigung seines eigenen kleinen Sohnes Nathanael hielt, oder seine Erzählung "Die Weihnachtsfeier".

Von ihm, Schleiermacher, könnte auch das folgende Sailer-Diktum stammen:
„Das schlafende Kind ist eine Hieroglyphe voll Sinn und Weisheit für Augen, die geheimen Schriften lesen zu können. Der Erzieher soll sie zu lesen verstehen, um an der Entwicklung des geistigen Lebens mitwirken zu können.“
Und auch dies:
„Wer die Menschheit in Kindern liebt und für ihr Wachstum und ihre Geistesbildung sich opfert, der ist ein großer Mann. Sein Name ist im Himmel geschrieben und die Engel Gottes nennen ihn mit Ehrfurcht.“

Eines macht diese – man könnt vielleicht sagen –  Anerkennungspädagogik besonders brisant: Sie bezeugt, dass es – bei aller Traditionstreue Sailers – schon einmal so etwas wie eine katholische Moderne gab, eben dies also, was in unserer Kirche heute flächendeckend unter Streit steht. Kein Wunder wohl, dass der unselige Nachfolger Sailers und fanatische Einpeitscher des Dogmas von 1870, Bischof Ignatius von Senestrey, versuchte, Sailers Werk noch posthum auf den Index zu bringen – und als ihm das nicht gelang, wenigstens in symbolischer damnatio memoriae Kreuz und Bischofsstab vom Grabmal seines Vorgängers entfernen ließ (was übrigens sage und schreibe bis 1977 so blieb). Längst sind wir heute erneut in solche Auseinandersetzungen um die Moderne verstrickt – als ob christliche Tradition je hinter sie zurück könnte, jene Moderne, für deren Aufkommen sie selbst herausragende Verantwortung trägt. Und dass ein Programm der „Entweltlichung“ dem gerade nicht gerecht wird, kann meiner Überzeugung nach als ausgemacht gelten.

In diesen Konfliktlagen stehen Sie als Lehrerinnen und Lehrer in erstpersönlicher Haftung für Ihre eigenen Überzeugungen an vorderster Front. Das kostet manchmal Kraft und Nerven – und die ihnen Anvertrauten setzen da gewiss nicht selten noch eins drauf. Aber vielleicht tut Ihnen gerade in einer solchen Situation gut, den alten Sailer in seiner enttäuschungsresistenten Zuversicht sagen zu hören:
„Die Hauptsumme aller Lehrertugenden ist Liebe und frohe Laune. Wenn ich's sonst nicht wüßte, wie Seele auf Seele so stark wirkt, so würde ich das in meiner Schule lernen. Wenn ich so recht froh in dieselbe komme, so sind die Kinder Engel und es geht alles herrlich.“
Dass sie das hie und da einmal in Ihrem Schulalltag erleben, das wünsche ich Ihnen.