Theologie der Unruhe  

3. Fa C: Ex 3, 1-8a. 13-15

I
In seinem jüngsten Buch mit dem Titel Vom Aufenthalt, einer Besprechung der Scherben des Weltgebäudes, über die wir hinweg trampeln, wie es im Klappentext heißt – in diesem Buch macht Botho Strauß eine aufwühlende Bemerkung über die christliche Predigt:
„Das Grauen Gott. Schon Kierkegaard spottete der Pastoren, die Gott in Süßigkeit und Mondschein tauchen. (Heute würde man sagen: Eine protestantische Predigt, das ist in den meisten Fällen, als spräche ein Materialprüfer vom TÜV über den Heiligen Gral).“
Wobei jüngst ein Kurienbischof in Rom ganz Ähnliches über die eigene katholische Predigtkultur bzw. -unkultur sagte. Und dann zitiert Strauß den Philosophen Sören Kierkegaard mit dem Diktum, dass Gott, der geliebt werden wolle, mit Hilfe von Unruhe nach dem Menschen jage.

II
Sucht man in der Bibel nach Spuren einer solchen Theologie der Unruhe, so macht man einen überraschenden Fund: Sie finden sich am dichtesten überall dort, wo es um den Namen Gottes geht. Da ist zum einen die Szene am Jabbok-Fluß: Jakob, der vor seinem Bruder Esau geflohen ist, weil er diesen um das Erbe betrogen hat, sucht die Versöhnung mit diesem. Auf dem Weg dazu verwickelt ihn ein Unbekannter in ein Handgemenge, aus dem Jakob buchstäblich angeschlagen – nämlich an der Hüfte verletzt – und zudem mit einem neuen Namen – Israel – hervorgeht, den der Unbekannte ihm gegeben hat. Seinerseits von Jakob/Israel befragt, wie er – der Unbekannte – denn heiße, antwortet dieser:
"Warum fragst du mich nach meinem Namen?" (Gen 32,30)

Ganz ähnlich im Buch der Richter, wo ein Engel die Geburt des Simson ankündigt und von dessen Vater gefragt wird, wie denn sein Name sei, damit man ihn nach der Geburt des verheißenen Kindes ehren könne. Antwort des Befragten:
"Warum fragst du nach meinem Namen? Er ist wunderbar." (Ri 13,18)

Darin mag durchaus eine Kritik der archaischen Überzeugung anklingen, dass, wer jemandes Namen kennt, über den Namensträger Macht gewinnt, so dass also die Beantwortung der Namensfrage mit einer Gegenfrage die Souveränität Gottes insinuiert – aber auch darin schwingt schon untergründig die Intuition mit, dass sich Gott nicht mit einem fixen Namen feststellen lässt – und das macht unruhig.

III
Genau das gilt auch für den alttestamentlichen Spitzentext der Namensthematik, die Selbstoffenbarung Gottes am brennenden Dornbusch aus der heutigen ersten Lesung. Die Gottesbegegnung, in die Szene eingebettet, findet nicht um ihrer selbst willen statt. Sie hat ein existentielles Motiv. Der Hilfeschrei der von den Ägyptern bedrängten Israeliten hat sie herbeigeführt. Und auf die Ursache des Hilfeschreis bleibt sie bezogen. Erfolgt die ganze Dornbuschepisode doch einzig dazu, den Mose für die Beendigung der Bedrängnis in Dienst zu nehmen. Mose selbst ist das Ganze – eigentlich kein Wunder – nicht geheuer. Er fühlt sich überfordert, fordert darum, wenn er mit dem Plan für den Befreiungsschlag vor seine Landsleute tritt, wenigstens benennen zu können, in wessen Namen das Unternehmen stattfinden soll. Es geht dabei nicht um äußere Bezeichnung, sondern – gemäß urbiblischer Namensauffassung – um das Wesen des mit Namen Genannten. Sonst würden die Israeliten ja nach Moses Prognose nicht nochmals nach dem Namen des Auftraggebers fragen, den er ihnen unmittelbar zuvor schon mit der Wendung "Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt" vorgestellt hatte. Und dann folgt die berühmte Offenbarung des Gottesnamens am Dornbusch, die die Theologie aller Epochen von neuem fasziniert hat:
Da sagte Gott zu Mose: Ich bin (bei euch) da, als der ich (bei euch) da bin.
Zuvor schon hatte Gott dem Mose, der sich von dem Auftrag überfordert fühlte, zugesprochen: "Ich bin doch mit dir!" Von dieser Zusage her wird dann der Gottesname gleichsam als Programm verstanden: Zum einen erweist die wörtliche Übersetzung von JHWH als "Er ist da" den Namen mit Bezug auf das Exodusgeschehen als Danknamen. Die geschichtliche Erfahrung der Befreiung wird sozusagen personalisiert. Befreiung und Freiheit machen konstitutiv das Wesen dieses JHWH aus. Und zum anderen wird dieses Ineinander von Gott und menschlicher Erfahrung radikalisiert, wenn man das JHWH in sprachlicher Perspektive betrachtet. Denn genau besehen handelt es sich bei dem Wort um einen unvollständigen Kurzsatz: "Er erweist sich als...". Die Leerstelle verlangt nach Ausfüllung. Und dies geschieht durch den Eintrag konkreter Einzelerfahrungen, in denen sich die ursprüngliche im Exodus ereignende Grundererfahrung sozusagen erneuert.

Die Zusammenfassung dieser Namenstheologie, die Vers 14 bietet – "Ich bin (bei euch) da, welcher ich (bei euch) da bin" – bringt auf einzigartige Weise zur Geltung, wie dieser Gottesname JHWH Gott treffend bezeichnet und dem Menschen nahebringt, ja geradezu in dessen Existenz hineinzieht – und dennoch den Unverfüglichen bleiben läßt; denn das Wichtigste an dem Namen ist sprachlich gesehen ja die Leerstelle!

IV
Dieses so schwer zu bestimmende hebräische „aehjaeh aser aehjaeh“ hatte zunächst in seiner griechischen (LXX-)Version „ego eimi ho on“ und dann in seiner lateinischen Version „sum qui sum“ schon Kirchenväter und dann die Scholastiker in Bann geschlagen, und nicht nur sie, sondern nicht weniger christliche und jüdische Denker der Moderne wie Herder und Moses Mendelssohn etwa und bis ins 20. Jahrhundert, z.B. Franz Rosenzweig.

Zwei von ihnen haben dabei zu Einsichten gefunden, die bis heute unverbraucht und unverzichtbar geblieben sind: Das gilt zum einen für einen Theologen, dessen Werk über Jahrhunderte als so etwas wie ein Anhang zum Neuen Testament betrachtet und entsprechend geachtet wurde. Es handelt sich um Dionysios Areopagita, einen Autor, von dem wir nicht mehr wissen, als dass er im Syrien des 5. Jahrhunderts wirkte. In seinem Buch Über die göttlichen Namen erläutert Dionysios, dass gewiss die symbolische Theologie mit ihren sinnlichen und geistigen Verhüllungen die dem Menschen zu Lebzeiten angemessene Form von Gottrede sei; doch könne er sich am Leitfaden dieser Symbole zur einfachen und einförmigen Wahrheit dieser Bilder vorarbeiten, indem er ihre positiven Aussagen sozusagen nochmals durchstreiche. Auch für die aus der Offenbarung – d.h. aus der Bibel – stammenden Gottesnamen gelte das. Er feiert Gott geradezu mit Kaskaden biblischer Prädikate. Aber zugleich spricht er ihm diese Prädikate als wesentliche radikal ab, weil sie alle nur analog auf Gott verweisen können, sofern Gott als der eine Träger ihrer aller – wenn nicht Widersprüche entstehen sollen – nur überseiend sein kann. Denn wie anders wäre möglich, dass Gott gleichzeitig
"in den Geistern ist, in den Seelen, in den Körpern, im Himmel und in der Erde, in allem zugleich als ein und derselbe in der Welt seiende, um die Welt, über der Welt, über dem Himmel, über dem Sein... und keines der seienden Dinge",
wie Dionysios an einer Stelle schreibt. Und in seinem ersten Brief meint er, wenn einer Gott geschaut haben wolle und verstehe, was er geschaut habe, dann habe er ihn nicht selbst gesehen, sondern etwas von seinen Geschöpfen, die seien und erkannt werden könnten. Negative Theologie fungiert so weder als Gegensatz zur noch als Ergänzung der positiven Theologie, sondern als deren innere Wahrheit. Nur im Wissen, dass jede positive Gottrede unzureichend ist, dürfen von Gott positiv Eigenschaften ausgesagt werden.

Jahrhunderte später wurde genau diese Einsicht Gegenstand einer Konzilsdefinition. In Reaktion auf problematische Ansichten des Abts Joachim von Fiore bezüglich der Trinitätslehre verabschiedete das Vierte Laterankonzil 1215 u.a. den Satz:
„... zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so große Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch größere Unähnlichkeit festzustellen wäre.“ (DH 806)

Nochmals eine Epoche später aber hat sich einer mit diesem Gottesnamen auf eine Weise so auseinandergesetzt, dass er die ganze Debatte gleichsam in eine neue Umlaufbahn katapultierte: Nikolaus von Kues, der Denker, Beter und Kardinal von der Mosel, der einen wie wenige andere ahnen lässt, welch atemberaubender Weite katholisches Denken eigentlich fähig wäre. Im ersten Buch seines Werkes De docta ignorantia schreibt er nämlich – und den Text muss man sich wörtlich vornehmen:
„Es ist ja einleuchtend, daß kein Name eigentlich dem Größten angemessen sein kann, da es das schlechthin Größte ist, zu dem nichts in Gegensatz tritt. Alle Namen sind nämlich aufgrund einer gewissen Besonderheit in der verstandesmäßigen Erfassung den Dingen zugelegt, auf der die Unterscheidung der einen vom anderen beruht. Wo jedoch alles eines ist, da kann es keinen besonderen Namen geben. Hermes Trismegistos [ein geheimnisvoller Weiser der Spätantike; K.M.] sagt darum mit Recht: ‚Da Gott die Gesamtheit der Dinge ist, so gibt es keinen ihm eigenen Namen, müsste doch Gott sonst mit jeglichem Namen benannt werden oder alles mit seinem Namen. Er umgreift ja in seiner Einfachheit die Gesamtheit aller Dinge. Gemäß seinem eigentlichen Namen – der für uns als unaussprechbar gilt und das Tetragramm ist […] – müsste man ihn deuten als ‚Einer und Alles’ oder ‚Alles in Eins’, was noch besser ist. So haben wir oben die größte Einheit gefunden, die dasselbe ist wie ‚Alles in Eins’. Freilich noch gemäßer und zutreffender als ‚Alles in Eins’ erscheint der Name ‚die Einheit’. Deshalb sagt der Prophet [Sacharja 14,9; K.M.], daß ‚an jenem Tage Gott Einer sein wird und sein Name das Eine’, und an anderer Stelle [Dtn 6,5; K.M.] ‚Höre Israel’ (das bedeutet: der, welcher Gott mittels der Vernunft erschaut’), dein Gott ‚ist Einer’.“

V
Wer so denkt, weiß, dass auch noch der biblische Wortlaut gebrochenes Echo des Unnennbaren im Hallraum unserer endlichen Seele ist. Wie könnte diese Einsicht anders, als uns unruhig zu machen! Aber wenn wir zugleich gewiss sein dürfen, dass Gott Alles in Eins ist, wie der Cusaner sagt, also auch wir selber unverlierbar in ihm seit je und für immer, dann muss unsere Unruhe nicht Grauen wecken, wie bei Strauß. Aus ihr kann stattdessen jene Unruhe freudigen Wartens werden, die einen erfüllt, wenn man weiß, dass einem ein ganz großes Geschenk zugedacht ist. Gottes Geschenk an uns ist  – er selbst: Ich bin der Ich-bin-da-für-dich. Freilich muss sich unser allzeit gegenwärtiges verfügen Wollen bekehren, damit wir überhaupt vernehmen, was uns versprochen ist.  Und dazu brauchen wir jene Gnade der Unruhe, die der Gottesname vom Dornbusch uns auf die Seele schreibt.