Gottes Demut

Taufe Jesu B: Mk 1,7-11 [+ Jes 46,3-4; zugewählt]

I
Der Heilige Philipp Neri – er lebte im 16. Jahrhundert in Rom – galt nicht nur als berühmter Spaßvogel. Gerade kraft seines Humors und seiner Schlagfertigkeit erwies er sich auch als hervorragender Menschenkenner. Eines Tages bat ihn der damalige Papst, er möge doch einmal prüfen, was es mit einer Klosterschwester in einem nahegelegenen Ordenshaus auf sich habe, von der berichtet werde, sie sei hellseherisch begabt und vollbringe wunderliche Dinge. Philipp Neri setzt sich schnurstracks auf seinen Esel und reitet bei miserablem Wetter zu dem Kloster, in dem die Nonne lebt. Die Oberin des Hauses empfängt ihn sogleich und erzählt im Detail von den fraglichen Vorkommnissen. Dann lässt Neri die besagte Nonne rufen. Die betritt das Zimmer, auf hochgeistige Fragen gefasst. Philipp Neri aber, ohne sie weiter zu begrüßen, streckt ihr seine vom Reiten dreckbespritzten Stiefel entgegen, dass sie ihm helfe, sie auszuziehen. Die vergeistigte Jungfer tritt entsetzt zurück und weist entrüstet dieses Ansinnen von sich. Neri steht gelassen auf und reitet zurück. Dem Papst, der verblüfft ist, dass Neri seinen Auftrag so schnell erfüllt hat, gibt er bündig Bescheid: Sie ist keine Heilige, ehrwürdiger Vater, sagt er, sie tut keine Wunder, denn die Haupteigenschaft fehlt ihr: die Demut!

II
Ein starkes Stück, was Philipp Neri da tut. Wenn nicht sarkastisch, so zumindest bodenlos leichtsinnig muss doch scheinen, wie er mit der frommen Frau umgeht – es sei denn, er ist sich der Demut als des Maßstabs für die Echtheit geistlicher, frommer Dinge unbeirrbar gewiss. Aber woher gewänne er solche Sicherheit?

III
Die Antwort, denke ich, ist ziemlich einfach. Neri müsste sich nämlich für sein Tun nicht auf eine besondere Erleuchtung berufen, sondern könnte sich auf das Evangelium stützen, speziell auf das Ereignis, das uns heute erzählt wird, die Taufe Jesu. Diese Geschichte hat übrigens bei den ersten Christinnen und Christen ziemlich Wirbel gemacht – bis dahin, dass manche Gemeinden der Meinung waren, sie müsse aus dem Evangelium getilgt und dürfe überhaupt nicht mehr weitererzählt werden.

Eigentlich ist diese Aufregung auch ganz verständlich. Da ist Johannes, dieser beinharte Bußprediger und Prophet des Gerichts. Er, der unbestrittene Mann Gottes, nach einem späteren Wort Jesu der Größte von einer Frau Geborene, also der am meisten Gott Nahestehende, er kündigt an, nach ihm werde einer kommen, der nicht nur wie er – Johannes – mit Wasser, sondern mit Heiligem Geist tauft, also einer, der spektakulär die Dinge beim Namen nennen und ebenso spektakulär zum Durchbruch bringen werde, was Gottes Wille ist.

Und was passiert wirklich? Jesus, den das ganze Evangelium als den Boten Gottes schlechthin bekennt, als den, der wahrheitsgetreu sagt, wer und wie Gott ist und der deshalb zurecht Gottes Sohn genannt wird, – eben dieser Jesus kommt an den Jordan und sieht die Menschen, die sich guten Willens und getrieben von der Wahrhaftigkeit von Johannes untertauchen lassen, also bekennen, dass sie neu anfangen müssen mit sich, wenn es gut ausgehen soll mit ihnen in den Augen Gottes. Als er das sieht, sagt er nicht gönnerhaft: Gut, Leute, so ist‘s richtig! Sondern: Er selbst, den absolut nichts von Gott trennt, er, der das absolut nicht nötig hätte, er stellt sich auf den Platz der von Gott Getrennten, der Sünderinnen und Sünder, und lässt sich darum taufen von Johannes.

Und als der das tut, so erzählt das Evangelium, sieht er den Himmel über sich offen und hört die Stimme Gottes sagen: Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe. Das will sagen: Gerade in dem Augenblick, da er sich gänzlich verdemütigt, – in dem Augenblick, da er sich wie einen Sünder, also diesen solidarisch sieht, da wird ihm seine einmalige Beziehung zu Gott auf einzigartige Weise bewusst. Und dies wiederum will bedeuten: Gott selbst stellt die durch die Sünde, durch das Böse zerstörte Beziehung zwischen uns und ihm wieder her, indem er, ja er selbst, in Jesus die Last der Sünde auf sich nimmt.

IV
Gerade das ist ja das Aufregende, nein: das schlechthin Revolutionäre am Evangelium, dass es sagt: Mensch, in deiner oft nicht zu besiegenden Eigensucht baust du nicht nur Mist, sondern tust du schlichtweg Böses: Böses, das keiner entschuldigen und keiner gutmachen kann. Und trotzdem bist du nicht eingesperrt in das, was geschehen ist. Weil Gott selbst, dein Gott, all das Zerstörerische – und das Zerstörte – in sich hineinnimmt und dadurch dir vergibt, wenn du ihn darum bittest. Erst wer glaubt, dass Gott das wirklich tut, vermag an sich selbst zu ändern, was nicht Bestand haben kann.

V   
Dass wir Menschen aus den Verhängnissen unserer Schuld dadurch freikommen, dass wir Gott unsere Sünden aufladen dürfen, weil er so demütig ist, sie sich selbst aufladen zu lassen, das ist ungeheuerlich. Doch das Wissen um diese Ungeheuerlichkeit, die da im Tun Jesu sozusagen ein konkretes Gesicht bekommt, ist zugleich gar nichts Neues, sondern kommt von weit her aus der Geschichts¬tiefe Israels, nämlich aus der Situation des Exils in Babylon:

Mit diesem Desaster des Exils geriet zwangsläufig der ganze Glaube Israels in eine Krise. Alles verspielt, alles verloren. Gottesnacht des Zweifels und der Verzweiflung. Zeit der Klagelieder an Babels Flüssen, die Harfen an die Trauerweiden gehängt. In dieser Zeit der Bedrängnis und verlorenen Hoffnung aber ahnt Israel zumindest, dass nicht Gottes Schwäche das Unheil hereinbrechen ließ, sondern seine – des Volkes – Gottlosigkeit. Gerade diese schonungslos ehrliche Selbsteinschätzung aber – so kann man rückblickend erkennen –, macht aus, dass die Geschichte überhaupt noch weitergeht. Denn vor ihrem Hintergrund konnte die Krisenzeit – je länger, je mehr – zur Lehrzeit werden, so lange, bis Israel zu denken wagte: Wenn unsere eigene Geschichte seit dem Exodus und auch schon vorher je einen Sinn gehabt haben soll, dann einzig dadurch, dass unser Gott auch dieses Geschick des Exils noch in seinen Händen hält – dass er Herr über Raum und Zeit ist. Doch Israel geht sogar noch weiter und sagt sich: Wenn es so wäre – wenn Gott auch jetzt noch der Herr ist, wenn wir ihm so viel wert sind, dass er bis jetzt mitging mit uns, dann ist auch dieses Exil nicht das Aus. Dann trägt er uns auch jetzt noch. Und weil Israel da in Babylon trotz allem nicht nur unter dem erneuten Druck der Entfremdung und Heimatlosigkeit des Exils steht, sondern auch jetzt in der Trauer noch zurückgreifen kann auf unauslöschliche Erinnerungen an erfahrenes rettendes Handeln Gottes in seiner Geschichte seit dem Exodus, – weil es die Erinnerungen daran auch jetzt noch erzählend gegenwärtig hält, deshalb kann das Volk jetzt zu einem so großen Glaubensmut heranreifen, der Gott sogar noch in der offenkundigen Situation des Gerichts zutraut, der Ich-bin-da-für-euch zu sein. Und eines Tages bricht der zuinnerst in der Existenzmitte geschehende Prozess der Reinigung des Glaubens in die Öffentlichkeit des Bekenntnisses durch, als einer der Propheten des Exils, der sogenannte „Zweite Jesaja“ oder die Prophetengruppe die hinter diesem Namen steht, im Geist Gottes die ungeheure Zusage zu geben wagt:
„Hört auf mich, ihr vom Haus Jakob,
und ihr alle, die vom Haus Israel noch übrig sind,
die mir aufgebürdet sind vom Mutterleib an,
die von mir getragen wurden,
seit sie den Schoß ihrer Mutter verließen.
– Gott an Mutter statt! –
ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet,
bis ihr grau werdet, will ich euch tragen.
Ich habe es getan
und ich werde euch weiterhin tragen.
Ich werde euch schleppen und retten.“ (Jes 46,3–4).

Ich bin für euch da, selbst dort noch, wo ihr eure Freiheit gegen mich kehrt und ihr diese Perversion existenziell im Zerfall eures Daseins und seiner Geschichte erfahrt. Weil Gott immer und immer derselbe bleibt – selbst noch in der selbstverschuldeten Verdunkelung des Antlitzes Gottes. Und warum? Weil Gott sich uns aufgebürdet hat vom ersten Atemzug an, aufgebürdet wie die schweren Packen eines Lasttiers. Ich werde euch weiterhin tragen, ich werde euch schleppen und retten. Gott ist einer, der macht sich zum Esel für sein Volk, für uns. Denn wie ein Esel wirft er seine Last noch immer nicht ab, nicht einmal dann, wenn sie unerträglich wird. Überall auf der Welt sind die Götter oben und die Menschen sind unten, müssen ihnen dienen. Bei uns steht alles Kopf: unten Gott, der sich plagt mit uns, bis wir grau werden, und wir oben, auf seinem Rücken. Das ist die existenzielle Kehrseite des Gottesnamens vom Horeb – eine Kehrseite, die die innerste Wahrheit dieses geheimnisvoll-hoheitlichen Namens überhaupt erst in ihrer eigentlichen Reichweite erahnen lässt.

VI
In der Taufe Jesu inkarniert sich gleichsam diese Rückseite des Gottesnamens in fleischliche Sichtbarkeit hinein. Deshalb vollendet sich Weihnachten genau in diesem Akt der Taufe Jesu. Tiefer hinabsteigen kann Gott nicht mehr. Er tut es für uns. Für unsere Freiheit.

Einen anderen Weg, von Schuld wirklich erlöst zu werden, gibt es für uns Menschen nicht. Kein Wunder, dass Philosophie und Mystik – und nicht nur die christliche –  zu allen Zeiten von diesem Geheimnis des buchstäblich herabgekommenen Gottes fasziniert waren und ihm ein wenig nahe zu kommen suchten. Freilich braucht es dazu, dass dieses Frei-Kommen vom Bösen geschehen kann, auch unsererseits der Demut, bis zum Grunde einzugestehen, was wir auf uns geladen haben. Wir demütig vor dem demütigen Gott. Und das dürfen wir wagen, weil wir seit Jesu Taufe wissen: Gott steht uns unverbrüchlich zur Seite.