Zauber des Anfangs

Stephanus A: Apg  6,8-10;  7,54-60

  
I
Einem Dichter kann widerfahren, dass einer seiner Verse zum geflügelten Wort wird – herausgerissen aus dem ursprünglichen Zusammenhang, gleichsam ein Eigenleben führend, und das nicht selten gegen seinen ursprünglichen Sinn. Auch Hermann Hesse ist das passiert: Aus seinem Gedicht mit dem Titel „Stufen“ stammt der Vers „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Wie oft kann man den hören oder lesen: Verliebte beschreiben mit ihm den Anfang ihrer Beziehung, junge Eltern den Beginn des neuen Lebens, über das sie sich freuen. Manche, mancher empfindet so, wenn ein beruflicher Neuanfang ansteht.

II
Wenn es einen Fall gibt, wo dieser Vers zu 100% nicht passt, dann ist das der Anfang der Kirche. Von wegen Zauber! Im Grunde begann alles mit einem schlimmen Misserfolg. Gerade hatte die junge Gemeinde der Jesus-Leute ein bisschen Fuß fassen können. Nach anfänglichem Zögern fand doch eine ganze Reihe von Leuten zu ihnen. Weil die Gemeinde dadurch etwas größer geworden war, stellten sich neue Probleme ein. Jetzt kannte nicht mehr jeder jeden. Wenn man trotzdem wie bisher allen zu Hilfe kommen wollte, die das nötig hatten, brauchte man ein paar Leute, die sich dieser wichtigen Aufgabe eigens annahmen – nicht zuletzt auch, dass die Apostel wegen der notwendigen praktischen Hilfe nicht das Predigen vernachlässigen mussten.

So entstand der Dienst der Diakone. Sie waren – würden wir heute sagen –, die Träger der kirchlichen Sozialarbeit. Zu ihnen gehörte auch Stephanus. Er hat anscheinend seine Aufgabe so ernst genommen und seine Sache so gut gemacht, dass sein Helfen geradezu von selber zum glaubwürdigen Zeugnis für den Christus wurde und auch auf diese Weise Leute für das Evangelium gewonnen wurde.

III
Das aber nahmen ihm einige übel, die von Jesus nichts wissen wollten. Als noch dazukam, dass Stephanus die, die ihn attackierten, seinerseits als Leute kritisierte, die sich in Wahrheit gar nicht dem Wort und Gebot Gottes verpflichtet wüssten, obwohl sie es behaupteten, da kam es zum Knall. Sie packten den Stephanus und brachten ihn um, so grausam, wie es damals nur eben möglich war. Und die Reaktion der anderen in der Gemeinde: Panik! Sie flohen in alle Himmelsrichtungen. Im ersten Moment schien es mit dem Christentum endgültig vorbei.

Aber was geschah? Die versprengten Apostel und Diakone fingen vorsichtig an, in den fremden Städten, in die es sie verschlagen hatte, wieder von Jesus und dem Evangelium zu sprechen. Und tatsächlich interessierten sich Leute dafür, jetzt vor allem Leute, die von der eigentlichen Wurzel des Christentums, also den jüdischen Überlieferungen, keine Spur Ahnung hatten. Darum mussten die Christen jetzt viele neue Worte und Zeichen gebrauchen, um sich denen verständlich zu machen, zu denen sie jetzt sprachen. So fing es mit der Kirche eigentlich an. Menschlich gesehen war es eine Katastrophe gewesen. Aber was daraus wurde – im Glauben durften die Christen sagen: Gott hat es geschenkt. Und sie taten gut daran, diesen ihren Ursprung im Kleinen, im Unscheinbaren, im Zerbrechlichen nicht zu vergessen. Weil gerade darin etwas aufleuchtet von Gott. Wo die Kirche den Ursprung vergaß oder vergisst, geht es – selbst wenn sie äußerlich gut dasteht – jedes Mal daneben. Ich glaube, das ist auch das Geheimnis hinter der Faszination, die von Papst Franziskus ausgeht: Dass er durch die Schlichtheit seiner Lebensart und seiner Gesten, durch die kreative Spontanität, mit der er das vatikanische Hofzeremoniell unterläuft oder manchmal einfach austrickst, etwas von diesem verletzlichen Anfang verkörpert.
„Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist“,
schrieb er im vergangenen November in seiner Regierungserklärung „Gaudium evangelii“.

IV
Stephanus ist in Person Erinnerungszeichen an diesen Ursprung der Kirche, der wahrlich verbeult und verletzt war. Obwohl sein Festtag mit Weihnachten an sich gar nichts zu tun hat, feiern wir ihn trotzdem ganz groß. Aber mir scheint, es ist kein Zufall, dass beide Feste so nah nebeneinander stehen. Denn irgendwie spiegelt sich ja in dem Ursprung der Kirche, wie ihn Stephanus versinnbildet, etwas vom Anfang der Geschichte Gottes mit den Menschen, die mit Jesus begonnen hat, also von Weihnachten.

Gott selber macht sich kund nicht in Macht und Pracht und Herrschergebärden. Sondern er macht sich zerbrechlich, unscheinbar wie nur ein kleines Kind es sein kann. Er tut das, um den Menschen, der ihn im Innersten sucht, aber zugleich irgendwie misstraut und sich vor ihm fürchtet, – um diesen zerrissenen Menschen auf eine Weise zu begegnen, die ihn nicht überrollt, sondern anrührt.

Wenn wir im Evangelium weiterfolgen, was daraus wird: Genau das Gleiche wie vorhin bei Stephanus. Nach anfänglicher Zustimmung zu dem, was Jesus sagt und tut, kippt die Stimmung um, und am Ende steht der Karfreitag mit dem Kreuz. Aber was hat Gott daraus werden lassen! Nach dem ersten Schock haben die Jünger zu begreifen begonnen, dass man so, wie Jesus auf das Kreuz zuging und starb, nur leben und sterben kann, wenn man im Leben und Sterben Gott unverlierbar nahe glaubt – selbst dort, wo man schier nichts mehr spüren kann von ihm. Und sollten sie in dem, was wichtiger ist als alles andere - was aus einem Menschen im Letzten wird –, sollten sie Jesus darin weniger trauen als in all dem anderen, wofür er ihnen zu Lebzeiten die Augen geöffnet hatte?

Wieder also: ein unscheinbarer Anfang, wieder scheinbar ein Ende aus Trümmern. Und wieder fängt mitten in dem, was wie Zerstörung aussieht, etwas Neues, Ungeahntes an. Vielleicht können wir so, wie wir als Menschen sind, nur durch solche Ent-Täuschungen im buchstäblichen Sinn hindurch etwas von Gottes Nahesein verspüren. Bei Jesus war es so. Bei Stephanus war es so. Ist es bei uns am Ende nicht anders?

V
Hermann Hesse war genau davon überzeugt. Sein Gedicht, aus dem jenes geflügelte Wort vom anfänglichen Zauber stammt, belegt das auf Punkt und Komma, weil es nicht romantisiert, sondern im Gegenteil von Aufbruch und – wohl auch schmerzlicher – Verwandlung spricht.
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Das gilt für jede und jeden für uns in erster Person. Es gilt auch für die Kirche als ganze. Ich denke, uns muss nicht bange sein.