Der wichtigste Satz

2. Fastensonntag A: Gen 12, 1-4a  


I
Vor einiger Zeit hat der griechische Regisseur Theodoros Angelopoulos einen neuen Film in die Kinos gebracht. Nur wenige sahen ihn. Es kam zu wenig Sex und Gewalt darin vor. Der Film heißt: „Der schwebende Schritt des Storches“. Er erzählt von einem Dorf, in dem Kurden, Türken, Albaner und Iraner dichtgedrängt leben. Mitten durch das Dorf geht ein Fluss. Der ist zugleich Grenze. Keiner aus dem drüben liegenden Teil des Dorfes darf herüber, keiner von herüben hinüber. Versucht es einer, wird er erschossen.

Der Film zeigt, wie eines Tages am Grenzfluss trotzdem ein junges Paar getraut wird. Hüben die Braut, drüben der Bräutigam, jeweils mit ihren Familien. Der Pope kommt dazu, die Trauung findet statt: Hier das Mädchen, dort der Junge, einsamer Brauttanz, ohne dass sich die beiden berühren. Die Braut wirft ihre Hochzeitskrone in den Fluss. Da naht ein Jeep der Grenzsoldaten. So rasch die Familien hinter der Böschung aufgetaucht sind, so rasch verschwinden sie wieder. Der Brautschmuck treibt auf dem Fluss davon, verliert sich im Nebel über dem Wasser.

II
Bilder von unsäglicher Trauer. Menschen unerreichbar füreinander, voneinander abgeschnitten. Auch die mächtigste Macht der Erde, die Liebe, kommt dagegen nicht an. Ja, nicht einmal der Himmel, das Heilige, für das der Pope steht. Das letzte Wort haben die Grenze und die Gewalt.                     

III
Angelopoulos sagt mit diesen Kinobildern gar nichts Neues. Genau das Gleiche steht seit Jahrtausenden auf den ersten Seiten der Bibel: Gott hat den Menschen geschaffen und ihm einen wunderschönen Lebensgarten geschenkt, erzählt sie. Dem Menschen aber war das nicht genug. Er misstraute Gott, ob er ihm nicht noch etwas an Leben vorenthalten habe. Darum versucht er, allmächtig zu werden. Das Gegenteil ist die Folge: Jetzt, außerhalb des Gottvertrauens, verkehrt sich ihm der Paradiesgarten in ein Jammertal, das Leben in Not, Plage, Gewalt: Der Mann herrscht über die Frau. Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Zu Noachs Zeit versinkt die Welt in einem Meer des Bösen. Und schließlich endet das Ganze mit dem Turmbau von Babel, mit dem die Menschheit sich endgültig einen Namen machen will, sich dabei aber so zerstreitet, dass einer des anderen Sprache nicht mehr versteht: Gewalt und Grenze feiern endgültig Triumph. Wie in Angelopoulos’ Film.

Zunächst klingt ja zwischen den Zeilen der Bibel trotzt des lawinenartigen Anwachsen des Bösen ein ganz anderer Ton mit: Der gegen Gott misstrauisch gewordene Mensch kann diesen Gott nur noch als einen erleben, der ihn wegschickt und straft. Aber Gott begrenzt jedesmal neu von sich aus die Folgen, die der Mensch mit seiner Abwendung von Gott auslöst: Adam und Eva müssen, als sie nach dem Baum in der Mitte des Gartens greifen, nicht sterben, wie das ursprüngliche Verbot ankündigte, sondern nur den Garten verlassen. Und Gott macht ihnen sogar noch Schurze aus Fellen, um sie nicht ganz ohne Schutz zu lassen. Kain wird trotz des Mords an seinem Bruder die besondere Obhut Gottes zugesagt, die ihn davor bewahrt, eben das von anderen zu erleiden, was er selbst getan hat. Über die Sintflut hinweg  wird der Noach und seine Familie für einen neuen Anfang gerettet, obwohl Gott weiß, dass auch diesen Hoffnungsträgern das Böse nicht fremd ist. Nur am Ende, beim babylonischen Turmbau, da fehlt dieser andere, dieser Hoffnungston. Wie bei Angelopoulos. Gemessen an dem, wie der Mensch ist und was er tut, und gemessen an dem, was er schon alles versuchte, kann nicht einmal mehr Gott etwas machen. Das ist  das letzte Wort der Schöpfungsgeschichte.

Und trotzdem geht die Bibel weiter. Im Grunde ist das der wichtigste Satz, der in ihr steht. Er heißt: „Und Gott sprach zu Abram...“ - Wie eigentlich alles gemeint war zwischen Gott und Mensch und mit der Welt, das mündete ins Verhängnis. Gott lässt es dabei nicht. Darum tut er etwas, was er noch niemals vorher tat: Bislang war es immer um die Welt, um die Geschichte, um den Menschen gegangen. Jetzt, mit der Berufung Abrams lässt Gott sich gleichsam persönlich auf die Geschichte ein, bindet sich selbst an einen konkreten Menschen, an dessen Gottessuche und Gottvertrauen, an sein Tun und Lassen. Der Sinn dieser Verbindung: Du Abram, sollst ein Segen sein. Auf ganz und gar menschliche Weise soll so offenbar werden, was Gott für seine Geschöpfe sein will, was diese ihn aber wegen ihres Misstrauens nicht sein ließen: ein Segen. Alle Geschlechter der Erde soll dieser Segen umfassen, der von Abram seinen Ausgang nimmt. Keinen und keine gibt Gott auf. Darum geht er uns entgegen, indem uns sein Segen in unseresgleichen, sozusagen in Menschengestalt begegnet.


IV
Freilich werden und müssen wir fragen: Was bedeutet das eigentlich genau dieses so entscheidende „Und Gott sprach“ ? Hans Urs von Balthasar hat Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts diese Frage genial beantwortet. Gott spricht zum Menschen - so schreibt er – mitten aus der Welt, ausgehend von dessen eigenen Erfahrungen. Die Offenbarungssprache setze die Sprache der Schöpfung voraus. Gott spricht sein Wort im Menschen und darum wird alles, was der Mensch ist, Organ für Gott. Und jetzt wörtlich:
"Je tiefer Gott sich selbst enthüllt, desto tiefer hüllt er
sich in den Menschen hinein."
In dieser "präzisen Verborgenheit" Gottes hat alles Reden Gottes in Menschenwörtern und alles Reden über ihn seinen Ermögli- chungsgrund. Sprachlich gewendet heißt das: Das Wort der Offenbarung übersteigt sich selbst - gleichsam zu uns herüber - im total menschlichen Wort. Und weil das so ist, bleibt dem Wort Gottes nichts Menschliches fremd: existentiell, personal, politisch, kultur- ell. Seinen Gipfelpunkt hat dieses kommunikative Herüberkommen Gottes ins Menschliche für Christen im Inkarnationsgeschehen, so dass in Jesus ausgesagt ist, was Gott sagen will. Notabene: Jesus ist Wort Gottes in seinem Reden und in seinem Schweigen! Gott muss sich dabei für seine Selbstoffenbarung nicht des Menschen bedienen. Wenn er es tut, dann sind damit alle menschlichen Di- mensionen für den Ausdruck des Absoluten in Dienst genommen.

Gläubige Hörer oder Leserinnen biblischen Wortes wie übrigens die Bibel selbst machen praktisch - wenn auch unausgesprochen - von dem solchermaßen sich artikulierenden Verständnis von "Wort Gottes" Gebrauch. Anders ließe sich ja nicht erklären, dass innerhalb der Bibel ganze Bücher als "Wort Gottes" gelten, obwohl sie ersichtlich und ausdrücklich aus von Menschen in erster Person und ureigenstem Anliegen gesprochenen Worten bestehen. Das gilt paradigmatisch vom Buch der Psalmen und von der apostolischen Verkündigung in der Apostelgeschichte sowie den neutestamentlichen Briefen. Diese Bücher sind ja von ihrem Selbstverständnis her Artikulation fragender, suchender, klagender, leidender, hoffender, jubelnder, dankender Menschen, die Antwort geben auf das, was ihnen Gott zuvor gleichsam ins Herz gesprochen hat.

Solche Rückverankerung des Sinnes von "Gott spricht" in der menschlichen Selbsterfahrung, die ineins Gotteserfahrung vermit- telt, ist übrigens keine neumodische Theologenerfindung. Vielmehr kann eine für weiträumige Zusammenhänge sensible Lektüre dieses Verständnis von "Wort Gottes" auch als ausdrückliches bereits im Alten Testament selbst namhaft machen - und zwar ausgerechnet im Bezug auf den schlechthinnigen Einsatzpunkt des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes. Gen 11,10-32,  dieses kurze Gelenkstück zwischen der Urgeschichte und den Geschichten der Erzväter aus unserer Lesung vorhin erzählt im Vers 31:
"Terach nahm seinen Sohn Abram, seinen Enkel Lot, den Sohn Harans, und seine Schwiegertochter Sarai, die Frau seines Sohnes Abram, und sie wanderten miteinander aus Ur in Chaldäa aus, um in das Land Kanaan zu ziehen. Als sie aber nach Haran kamen, siedelten sie sich dort an."
Und dann setzt Gen 12,1 die Abramsgeschichte mit dem unvermit- telten Befehl Gottes an Abram ein, aus seinem Land, von der Verwandtschaft und seinem Vaterhaus auszuziehen. An einer ganz anderen Stelle - chronologisch und theologisch weit entfernt von der Abramstradition - erhält jener Aufbruch der Terach-Sippe aus Ur und auch die Abramswanderung eine frappierende Interpretation: Holofernes, der Oberbefehlshaber des assyrischen Heeres lässt sich, provoziert vom Widerstand Israels, durch Achior, den Anführer der Ammoniter, über das ihm unbekannte Volk der Israeliten informieren. Achior leitet seine Beschreibung folgendermaßen ein:"
Diese Leute stammen von den Chaldäern ab. Sie hatten sich zuerst in Mesopotamien niedergelassen, weil sie den Göttern ihrer Väter im Land der Chaldäer nicht mehr dienen wollten. Sie waren nämlich von dem Glauben ihrer Vorfahren abgewichen und hatten ihre Verehrung dem Gott des Himmels zugewandt, zu dessen Erkenntnis sie gelangt waren. Deshalb hatten die Chaldäer sie aus dem Bereich ihrer Götter vertrieben, und sie waren nach Mesopotamien geflohen, wo sie sich einige Zeit aufhielten. Doch ihr Gott gebot ihnen, ihren Wohnsitz zu verlassen und in das Land Kanaan weiterzuziehen" (Jdt 5, 6-9a).
Als treibendes Motiv für den Aufbruch Terachs und seiner Familie werden also Gottessuche und Gotteserkenntnis benannt. Der neu- erliche Aufbruch Abrams vollzieht sich in der Sicht des Buches Judit ganz im Gefälle dieses Motivs - und das bedeutet: Das "Der Herr sprach..." von Gen 12,1 wird im Buch Judit als eine Initiative Gottes verstanden, die unabtrennbar in eine als Suche und Erkenntnis sich vollziehende menschliche Gotteserfahrung eingebettet ist.

IV
Für den Abram ist das - menschlich gesagt - eine Ehre, wie es sie vor ihm noch niemals gab. Aber eine Aufgabe ist es auch. Und keine leichte. Um Gottes Segen für alle zu werden gegen das Verhältnis vom Anfang, muss er Heimaterde, Verwandtschaft und Vaterhaus verlassen – für einen Seßhaften damals, wie Abram einer war, etwas nahezu Unzumutbares. Mit Wohl und Wehe soll er sich Gott anvertrauen. Tut er es, verbürgt sich Gott, dass Abram selbst gesegnet, dass er glücklich werden wird. Und durch ihn die ganze Welt. Abram folgt diesem Ruf. So ist sein Leben mitsamt seinen Schwächen und Brüchen zur Geschichte von Gottes Passion für seine Geschöpfe geworden. Seit Abram können Menschen darum auch - gleichsam auf den Schultern Abrams - einander Segen sein, kann einer den andern spüren lassen, dass Gott es mit ihm gut meint. Zusammen mit den Juden und den Mulimen sind wir Christinnen und Christen die Erben Abrams. Wir gehören in den Segen hinein, der ihm zugesprochen war. Mit ihnen ist uns darum aufgetragen, seine Berufung wahr zu machen. Wir sind Zeugen dafür, was Mensch und Welt Gott wert sind. Zeugnis kann immer nur persönlich sein, auf Du und Du. Jedes Mal, wenn Sie zu einer oder einem anderen „Du“ sagen, haben Sie jemand, der darauf wartet, dass Sie ihm Segen sind.