Was uns richtet

19. So C: Lk 12,32-48

I
Dostojewski erzählt die Geschichte einer alten Frau, die sehr böse war. Eines Tages starb sie. Die Frau hatte in ihrem Leben keine einzige gute Tat vollbracht. Da kamen denn die Engel, ergriffen sie und warfen sie in den Feuersee. Ihr Schutzengel aber stand da und dachte: Kann ich mich denn keiner einzigen guten Tat von ihr erinnern, um sie Gott mitzuteilen? Da fiel ihm etwas ein und er sagte zu Gott: Herr, sie hat einmal aus ihrem Gemüsegärtchen ein Zwiebelchen herausgerissen und es einer Bettlerin gegeben. Und Gott antwortete ihm: Nimm, sagte er, dieses Zwiebelchen, und halte es ihr hin in den See, so dass sie es ergreifen und sich herausziehen kann. Und wenn du sie aus dem See herausziehen kannst, so möge sie in das Paradies eingehen, wenn das Zwiebelchen reißt, so soll sie bleiben, wo sie ist.

Der Engel lief zu der Frau und hielt ihr das Zwiebelchen hin. Fass an, sagte er, und begann vorsichtig zu ziehen – und beinahe war die Frau schon heraus. Als aber die anderen Sünder im See merkten, dass sie herausgezogen wurde, klammerten sie sich alle an sie, damit auch sie zusammen mit ihr herausgezogen würden. Aber die Frau wurde böse, stieß sie mit den Füßen zurück und schrie: Nur mich allein, mich allein nur soll man herausziehen, es ist mein Zwiebelchen, nicht eures. Wie sie das ausgesprochen hatte, riss das kleine Pflänzchen entzwei und die Frau fiel in den Feuersee zurück. Der Engel aber weinte und ging davon.

II
Verkündigung des Evangeliums ist immer Kunde davon, dass Gottes Liebe größer ist, als unser Herz, unendlich größer als jedes Menschenurteil – ja, dass Gott in sich die Liebe sogar noch seine Gerechtigkeit besiegen lässt. Gott ist nicht der große Sündenbuchhalter, der dann eines Tages Abrechnung hält.  Trotzdem ist es nicht egal, wie ich lebe. – Gott wird mir schon vergeben, das ist ja sein Geschäft, spöttelte Heinrich Heine einmal. Heine irrte, weil Gott alles von uns ernst nimmt: Alles, was menschlich getan ist aus Liebe und ihm deshalb entspricht; aber auch alles, was wir in Abwendung von ihm meinen tun und lassen zu sollen. Deshalb gibt es vor Gott auch eine endgültige Lebensbilanz eines und einer jeden, in der offenbar wird, ob sich ein Mensch im Letzten für oder gegen seinen Gott entschieden hat. Dieses Offenbarwerden des Endgültigen einer Existenz nennen wir Gericht. Anschaulich machen wir es uns in Bildern: vom Feuersee, den Engeln redet Dostojewski, und von der seltsamen Sache mit dem Zwiebelchen. Bilder von Menschen gemalt – doch hat der Dichter mit ihnen vielleicht trotzdem Wahrheit berührt?

III
Viel mehr als das. Dostojewski hat seine Geschichte aus inniger Nähe zum Evangelium geschrieben. Was sie anzudeuten weiß, haben uns vorhin die drei Gleichnisse Jesu bis zum Grunde aufgetan. Alles fängt dabei freilich gleich anders an, als wir zu denken gewohnt sind, wenn wir vom Gericht hören. Denn: Am Anfang vor den Gleichnissen steht nicht eine moralische Forderung, sondern die Zusage eines Geschenks: Euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben. Wer glaubt, was ich von Gott und vom Menschsein sage, dessen Leben wird verwandelt: an die Stelle der Sünde: die Liebe. Für Gott aufgetan und einander zugetan könnt ihr dann leben; eben darin keimt der erste Vorschein dessen auf, was einmal sein wird, wenn alles gut geworden ist. Allerdings: das Reich-Gottes-Geschenk lässt sich nicht so nebenbei mitnehmen zwischen vielen anderen Dingen. Soll es Wirklichkeit werden, dann muss einer das Reich Gottes zur Mitte seines Lebens machen. Denn – so der Herr –: Wo euer Schatz ist, da ist euer Herz. Will sagen: Reich Gottes bestimmt euch erst, wenn ihr es als kostbaren Schutz angenommen habt, als beglückenden Fund, der euch über alles geht. Andere Schätze – wenn ihr an ihnen hängt – blockieren das Reich Gottes, sie ziehen euch in einen anderen Lebensentwurf hinein. Am meisten der Schatz euerer Habseligkeiten. Deshalb erwähnt ihn Jesus ja auch eigens.

Die drei Gleichnisse, die nun  folgen, erzählen, worauf gefasst sein muss, wer sich für das Gottesreich entscheidet. Das erste: Legt eueren Gürtel nicht ab und lasst eure Lampen brennen. Seid wie Menschen, die auf die Rückkehr ihres Herrn warten. Seid wachsam! Der Herr will uns sagen: eine vom Gottesreich beseelte Existenz ist nichts Statisches, nichts Starres. Sie vollzieht sich im Offenstehen für Neues, als Aufbruch zu unerwarteten Begegnungen und einem ihnen entsprechenden Handeln. Solche Existenz misstraut also dem Bescheidwissen, den zementierten Meinungen; stattdessen lässt sie sich bewegen von erfinderischer Liebe: sie wird trösten, wo getrauert; schenken, wo gehungert; versöhnen, wo gestritten; protestieren, wo gegen das Leben gehandelt wird – egal um wen, egal worum es geht. Nirgends wird dabei Heroisches eingefordert; auf das Gegenwärtighalten der Alternative des Evangeliums in den Widerfahrnissen unseres gelebten Werktags kommt es vielmehr an – darin besteht christliches Wachsein. Die das wagen, denen gibt Jesus eine Verheißung, die geradezu unglaublich klingt: Selig, die der Herr wach findet, wenn er kommt. Mitten in der Nacht wird er sich gürten, seine Knechte Platz nehmen lassen und sie bedienen. Keinem menschlichen Herrn fiele ein, so zu tun. Aber Gott! Gott handelt genau so – sagt das Gleichnis –, so unglaublich. Die kleine Tat des Wachens belohnt er ohne Maß. So handelt ein Liebender, nicht ein Buchhalter. Erkennen Sie da Dostojewski wieder?

Wenn es sich so verhält, ist es dann nicht ein Leichtes, vor Gott zu bestehen? Bedenkt, antwortet uns Jesus im zweiten Gleichnis: Wenn der Herr des Hauses wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so würde er den Einbruch verhindern. Genau das aber weiß eben keiner, wann der Dieb kommt. Und ebenso unbemerkt kommt der Menschensohn. Die Stunde des Gerichts geschieht nicht mit Lärm als Spektakel. Sie schlägt unbemerkt – am öftesten in den unscheinbaren Begebnissen und Begegnungen. Ob es sich Dostojewskis alte Frau je hätte träumen lassen, dass es der entscheidende Augenblick ihres Lebens war, als sie für die Bettlerin die kleine Zwiebel ausriss – vielleicht sogar mürrisch, um den Plagegeist endlich loszuwerden? Lasse ich mir träumen, dass meine Stunde schlägt in dem Augenblick, da ich eine kleine Bosheit nicht heimzahle, eine lästige Frage noch einmal geduldig anhöre, einem verschlossenen Gegenüber ein gutes Wort schenke, obwohl es nicht erwidert werden wird?

Wenn nun ein Mensch um all dies weiß und es ernst nimmt – darf er dann nicht beruhigt seiner Wege gehen? Seltsamerweise fügt Jesus ein drittes Gleichnis an, das vom Hausverwalter, der während der Abwesenheit seines Herrn um das ganze Gesinde Sorge tragen soll. Diese nochmalige, eindringliche Mahnung um Wachsein hatte Jesus ursprünglich wohl an die Führer des Volkes, besonders an die Schriftgelehrten gerichtet: Gott wird prüfen, ob sie das ihnen geschenkte Vertrauen gerechtfertigt oder missbraucht haben. Lukas hat in den Kreis der Adressaten dieses Weckrufes die mit einbezogenen, die jetzt in der Zeit nach Christus, in der Zeit der Kirche anstelle der Schriftgelehrten verantwortlich sind für Gottes Sache. Und damit hat Lukas gesagt: Je mehr einem an Sorge um das Reich Gottes und die Gemeinschaft des Glaubens anvertraut ist, desto unbedingter wird einer Rechenschaft ablegen müssen. Auch wer dem Herrn nahesteht, kann noch eigensüchtig werden – gerade in seinem Dienst für ihn. Der Egoismus macht sich – wenn es sein muss – auch über das Heilige her. Dostojewskis Alte kann es nicht ertragen, dass die Rettung, die in ihrer kleinen Tat wurzelt, auch anderen zugute kommen soll. Vor Gott – ja, so ist er –, vor Gott hätte sogar das kleine Zwiebelchen der Liebe für alle gereicht. Die Frau will es für sich. Sogar ihr kleines bisschen Güte noch soll allein ihr zum Nutzen werden. So tief kann der Egoismus reichen. Da müssen auch die Engel weinen davor. Wenn sich einer einmal ertappt hat, wie er bei seiner Mitarbeit in der Gemeinde, bei einer Gabe für dies oder das sich selber wohlgefällig zugeschaut hat; wenn ein Priester einmal merkt, dass er in der Liturgie nicht Gott gefeiert, sondern sich selbst zelebriert hat, dann weiß er, dass jenes dritte Gleichnis Jesu nicht nur den Aposteln, sondern durch sie uns allen gesagt ist.

IV
Der Herr kennt uns. Er weiß, dass wir kraft unserer Freiheit fähig sind, Träger des Reiches Gottes zu sein – aber in derselben Freiheit auch fähig, das zu ersticken, woran ihm alles liegt. Das bringt uns ums Leben. Er aber will, dass wir bestehen. Darum hat er uns diese Gleichnisse vom Wachsein erzählt. Sie rühren uns auf, damit wir eingedenk bleiben, wer er ist, wer wir sind – und was es heißt, seiner Botschaft vom Gottesreich zu glauben.