Österlicher Umschwung

Osternacht B: Mk 16, 1-7 [8]


I
Jetzt feiern wir Osternacht. Vor drei Tagen schon hat das Fest begonnen, am Gründonnerstag – ganz verhalten in Ton und Geste. Am Karfreitag dann der – von außen gesehen – Irrwitz, ein Sterben zu feiern. Danach der Karsamstag, der einzige Tag des liturgischen Jahres, an dem es keine Eucharistie gibt, sondern nur das stille Verweilen am Heiligen Grab und die Psalmen der Trauermette. Und jetzt der Höhepunkt von allem – die Osternacht.

II
Was hat es mit dieser Osternacht auf sich? Was geschieht da? Seit meinem ersten Semester als Theologiestudent, Winter 1974/75, denke ich genau darüber nach, also 38 Jahre – und habe immer noch keine Antwort, mit der ich zufrieden wäre. Immer nur Bilder, Metaphern und Vergleiche, die mich, wenn es denn gut geht, von Ferne etwas ahnen lassen von dem, was ich suche. Aber vielleicht geht das gar nicht anders. Vielleicht muss ich da einfach bescheidener werden. Denn immer geht es da bei Ostern um einen Bruch des Gewohnten, einen Umschwung, den man nicht machen und über den man nicht verfügen, sondern der einen von sich aus ergreift.

Ein besonders eindrückliches Zeugnis dafür findet sich in dem Briefwechsel eines der großen Liebespaare aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts: Da erzählt der Komponist Hans Werner Henze seiner Geliebten Ingeborg Bachmann eine dramatische Episode aus dem Leben Giuseppe Verdis:
Verdi hatte seine Frau und beide Kinder verloren und war auf dem Tiefpunkt der Depression, durch nichts mehr zu ermuntern. Der Intendant der Scala […] traf ihn in der Galleria und drängte ihm das Libretto zu „Nabucco“ auf, ihn versichernd, dass er es noch in dieser Saison geben würde. Verdi lehnte ab und wollte es gar nicht erst lesen. Zuhause warf er dann dieses Libretto auf den Boden, voll Wut, dass sie ihn mit neuen Aufträgen sekkierten, weil er, wie er dachte und sagte, völlig am Ende war und nie mehr etwas schreiben würde. Zwei Tage später, als er noch verzweifelter war, fiel sein Blick auf das nach wie vor am Boden liegende Libretto. Als er sich bückte, um es aufzuheben, sah er den Text eines Chores, der mit den Worten begann: [Va pensiero sul ali dorate] „Flieg Gedanke mit goldenden Flügeln“ – und beinahe unbewusst setzte er sich ans Klavier und komponierte diesen Chor, der heute eine Art Nationalhymne ist und der bei Verdis Beerdigung von tausenden von Mailändern auf dem Domplatz gesungen wurde.

III
Da stößt der in tiefste Trauer gefallene, vom Lebensekel angefressene Verdi auf einen scheinbar banalen Satz, auf ein fast kitschiges Sprachbild – aber das bringt in ihm völlig unversehens und unvorbereitet etwas zum Klingen, das ihm von Innen her seine ganze Existenz verwandelt und ihn zum Schöpfer eines Meisterwerks macht, das seinerseits bis heute Menschen in Bann zieht, tröstet und erfreut.

So stelle ich mir auch den Osterumschwung vor: Die Frauen kommen voll Trauer und Verzagtheit zum Grab, sie finden den Leichnam nicht und eine Engelstimme sagt ihnen: Habt keine Angst. Er ist auferstanden. Engel sind so etwas wie himmlische Traumbilder, eine Vision, Gottes Bild gewordene Gedanken gleichsam, wie er uns gemeint hat: Als Geschöpfe, die sich vor nichts fürchten und vor nichts erschrecken müssen, nicht einmal vor dem Sterben und dem Grab, weil Gott mit ihnen ist. Immer. Auch im letzten Ende noch.

IV
Und genau das war ja auch der Glutkern der Predigt Jesu gewesen, die ihn ans Kreuz gebracht hatte. Er hat von Gott erzählt, wie er in Wahrheit ist: Einer, der uns Gutes will, der uns nicht einmal abschreibt, wenn wir uns schuldig machen, der liebevoll um uns wirbt, ja ringt, um uns wieder für sich zu gewinnen. Einer, dem man darum unbedingt vertrauen darf. Das hat Jesus verkündet, und was er verkündete, hat er in menschlichen Gesten – Hunger stillen, heilen, befreien, Sünden vergeben – versinnbildet und spürbar gemacht.

Bestimmten Kreisen hat dieser Gott Jesu nicht gepasst. Er war ihnen zu nah, zu menschlich. Sie wollten ihn weiter weg, höher, unnahbarer. Denn dann war mehr Platz für sie selber, für ihre Ansprüche, ihre Interessen. Darum haben sie, als es ihnen zuviel wurde, Jesus beseitigt. Er floh nicht vor dem diesem Ende, obwohl er es gekonnt hätte. Denn mit einer Flucht hätte er Lügen gestraft, was er von Gott sagte: Wenn man Gott vertrauen kann, dann kann man ihm in allem vertrauen, in absolut allem, also auch dann noch, wenn mir alles aus der Hand genommen wird, ich mir selbst, wenn ich sterbe. So machte Jesus auch noch sein Ende zur Botschaft, zum Schlusswort dessen, was er während seines Lebens gepredigt hatte.

Das Wort des Engels an die Frauen am Grab ist so etwas wie das himmlische Echo auf jenes Schlusswort Jesu. Es kann darum nichts anderes heißen als: Gott selbst hat bestätigt, was Jesus während seines Lebens und dann besonders mit seinem Ende am Kreuz von ihm gesagt hat. Er hat Jesus recht gegeben. Recht gegeben also auch seinem Vertrauen, sogar im Tod nicht verloren zu gehen, weil Gott in allem der Verlässliche, der Treue bleibt. Gegen die Macht des Todes Recht zu bekommen aber bedeutet nichts anderes, als im irdischen Sterben zu entdecken, dass das bisherige Leben schon eine verborgene Innenseite besaß, die der Tod nicht zerstören kann und die jetzt erst sichtbar wird.

V
Recht bekommen aber ist nicht etwas, das im stillen Kämmerlein geschieht. Recht bekommt einer vor den Augen der Öffentlichkeit. Doch weil es sich bei dem Recht, das der Gekreuzigte von Gott bekommt, um das Recht seines urpersönlichen Gottvertrauens, also das Recht von etwas ganz und gar Innerem zwischen Gott und Jesus geht, kann dieses Rechtbekommen – wie alles Innere – nur in Sinnbildern und Zeichen zu öffentlichem Ausdruck kommen. Wie das geschieht, hängt dabei ganz und gar davon ab, wem in welcher Situation das Bestätigt worden sein Jesu aufgeht, also offenbart wird. Daher rührt, dass es im Neuen Testament so viele verschiedene, miteinander nicht vergleichbare und aufeinander nicht rückführbare Geschichten über die Begegnung mit dem Auferstandenen gibt.

VI
Die Geschichte dieser Nacht, die wir vorhin hörten, sagt es so: Das Grab ist offen und kein Toter. Das heißt soviel wie: Hier sucht ihr an der falschen Stelle, wenn ihr nach Jesus und seinem Schicksal sucht. Das Grab ist leer, es beinhaltet keine Auskunft und keine Botschaft über ihn. Und noch deutlicher der Engel, Gottes Botschaft in Person sozusagen: Der Engel schickt die drei Frauen fort vom Grab. Aber wichtig, wohin er sie schickt! Nach Galiläa – dorthin also, wo alles begonnen hatte, wo Jesus zu predigen anfing, wo sie ihn kennen gelernt hatten und ihm gefolgt waren. Er schickt sie zurück an den Anfang seines Weges und ihres Weges mit ihm. Jemand an den Anfang eines Weges zurückschicken heißt nichts anderes, als ihn auffordern, den Weg nochmals zu gehen. Dort werdet ihr ihn sehen, verspricht der Engel.
VII
Er will sagen: Das Gottvertrauen selbst zu leben, das er gelebt hat, es in die tätige Güte zu übersetzen, die er gewagt hat, heißt dorthin kommen, wo einem unbezweifelbar aufgeht, dass er recht hatte und dass darum für immer gültig bleibt, was er sagte und wie er war – dass er also lebt. Dass Auferweckung so wenig irgendein Jenseits meint und so zuinnerst im gelebten Leben beginnt, – darauf können Menschen wahrscheinlich zunächst einmal gar nicht anders reagieren als die Frauen am Grab: in Furcht und Entsetzen davonzulaufen, weil der Himmel so unglaublich nah ist. Aber schon der nächste Satz deutet an, dass sie trotzdem verstanden haben: Denn sie erzählen nichts von dem, was ihnen widerfahren ist. So endet das Markus-Evangelium. Weil für die Osterbotschaft Wörter nicht das Erste sind. Was aber dann?
VIII
Eigentlich sehr einfach: Dass es das Evangelium und an seinem Ende unsere Geschichte dennoch gibt, verrät, dass das Rechtbekommen Jesu durch Gott trotz des Schweigens der ersten Osterzeuginnen öffentlich geworden ist: Wenn aber nicht durch Worte, weil die Frauen schwiegen, dann eben dadurch, dass sie – ganz wie der Engel es ihnen aufgetragen hatte – mit dem Weg des Glaubens ganz von vorn anfingen und so durch ihr Tun und Leben Zeugnis gaben von dem, was unzerstörbar ist und trägt. Man kann dafür sagen: Sie sind Zeugen dafür geworden, dass Jesus lebt. Aber – wie gesagt: die Worte sind zweitrangig. Die Osterbotschaft gibt es schon vor ihnen. Den Jesus-Weg gehen macht Ostern aus. In seinem Gehen werden wir aus dem Todesdunkel geholt. Und klar natürlich, dass dieser Schluss ohne Worte auf die Leser und Hörer – also auch auf uns – zielt und soviel bedeutet wie: Geht doch auch mit! Fliegt, Gedanken an ihn, mit goldenen Flügeln! Dann werdet ihr ihn sehen.