Wer wir sind

7. Ostersonntag B: Apg 1,15-17.20a.c-26

I
Der wohl größte Philosoph nach Platon, Immanuel Kant, schrieb einmal: Es gebe vier Fragen, denen keiner im Leben entkomme und auf die jeder und jede eine Antwort finden müsse: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? Wer ist der Mensch? Die letzte dieser Fragen hielt Kant für die wichtigste, weil sie die vorausgehenden drei einbegreife, so Kant in seiner Logik-Vorlesung von 1800.

Die Antworten auf diese Fragen ist Legion. Auch der Dichter Erich Kästner hat eine gegeben. Eine Antwort mit dem für ihn typischen Humor, der immer verbunden war mit einer unerbittlichen Wahrhaftigkeit. Kästner schrieb:

        Wie nun mal die Dinge liegen
        und auch wenn es uns missfällt:
        Menschen sind wie Eintagsfliegen
        an den Fenstern dieser Welt.

        Unterschiede sind fast keine
        und was wär auch schon dabei!
        Nur: die Fliege hat sechs Beine,
        und der Mensch hat höchstens zwei.

II
So ist es ja in der Tat. Aufs Ganze gesehen sind wir als ein Einzelner oder Einzelne unter Milliarden unseresgleichen tatsächlich nicht mehr als eine Fliege am Fenster. Wir kommen, wir leben eine Weile, wir gehen wieder. Und oft schon nach ein paar Jahrzehnten, wenn‘s hoch kommt, wird keiner mehr nach uns fragen, geschweige denn von uns wissen. Unterschiede zu den Fliegen sind fast keine, sagt Kästner. Fast. „Fast“ nicht nur wegen des Unterschieds in der Zahl der Beine. Sondern „fast“ vor allem deswegen, weil wir Menschen im Unterschied zu den Fliegen wissen, dass wir im Ganzen der Welt fast nichts anderes als Eintagsfliegen sind. Aber dieser winzige Unterschied hat es in sich. Denn er bedeutet: Ich weiß, dass ich als unbedeutendes Staubkorn hier und jetzt stehe, nach mir frage und um mich weiß, hier und jetzt, also an einem Ort und in einem Zeitpunkt, der ganz einmalig ist, den es noch nie vorher gegeben hat, den es nachher nie mehr geben wird, und der darum unvertretbar der meine ist. Obwohl bedeutungslos wie eine Eintagsfliege, bin ich zugleich etwas ganz und gar Einmaliges und habe meinen Platz im Ganzen auszufüllen – oder fülle ihn eben nicht aus, verspiele ihn unwiederbringlich. Wenn das wahr ist – lädt uns das nicht eine riesige Last auf die Schulter? Und was muss ich tun, um mir selbst, meinem Platz gerecht zu werden?

III
Die heutige Lesung aus der Apostelgeschichte erzählt – auf den ersten Blick gesehen – eigentlich nur die Episode, wie die Jünger nach Ostern einen Nachfolger wählen für Judas, der sich von Jesus abgewandt und ihn dann verraten hat. Schaut man genauer hin, was dabei gesagt wird und wie die Jünger den Matthias als Nachfolger des Judas wählen, entdeckt man, scheint mir, ein paar ganz wichtige Dinge, die mit unserer schwierigen Frage zu tun haben, wie ich denn meinen Platz im Leben richtig ausfülle.

Bei dieser Nachwahl für den Kreis der Apostel sagt Petrus über Judas: Er wurde zu uns gezählt und hatte Anteil am gleichen Dienst. Petrus stellt einfach fest. Er richtet und verurteilt nicht. Da schwingt die Ahnung mit, dass man in einen anderen nicht hineinschauen kann. Wenn überhaupt einer, dann weiß Judas allein, warum er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat.

Seit Anbeginn haben sich die Christinnen und Christen Gedanken darüber gemacht, warum denn Judas Jesus verraten hat, obwohl doch auch er berufen war. Mit einer gewissen Vorsicht wird man vielleicht sagen dürfen: Im Letzten wurde Judas zum Verräter, weil Jesus seine Erwartungen, die Heraufkunft des Gottesreiches nicht schnell und entschieden genug herbeiführte. Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat eben das in seinem jüngsten Roman mit dem Titel „Judas“ auf erregende Weise durchgespielt. Judas hat dem Gang der Dinge, vor allem gegen Ende, nicht mehr getraut. Dass möglicherweise auch ein irdisches Scheitern Jesu kein Widerspruch zum Kommen des Gottesreiches sein müsste, wie Jesus das selbst angedeutet hat, dieser Gedanke war für ihn gar nicht vorstellbar. Darum die ganze Sache selber in die Hand nehmen oder – wie er es dann tat – sie enttäuscht aufgeben: Das hat ihn um den Platz gebracht, der eigentlich der seine gewesen wäre.

IV
Mir scheint, die Art und Weise, wie die Jünger dann nach Ostern für den Judas einen Nachfolger wählen, spiegelt genau das Gegenteil vom Verhalten des Judas: Sie wählen zwei Männer aus, die ihnen menschlich gesehen geeignet scheinen, Josef, genannt Barsabbas, mit dem Beinamen „Justus“, also „Gerechter“, und Matthias. Und – jetzt kommt das Besondere – dann beten sie und losen aus, wer von den beiden Apostel werden soll. Dass sie vor dem Auslosen beten, zeigt, dass es dabei um alles andere als um einen Zufallstreffer geht. Beten heißt: Ein Ereignis, eine Entscheidung unter das Vorzeichen Gottes zu stellen; heißt: dieses Ereignis oder diese Entscheidung als etwas verstehen, wodurch Gott etwas mitteilt. Das setzt natürlich voraus, dem sichtbaren Gang der Dinge zuzutrauen, dass er mir etwas zu sagen hat. Im Glauben sind sich die Jünger gewiss: Es kann für uns und die Gemeinde nicht wirklich Wichtiges geben, bei dem wir von Gott verlassen wären. Darum dürfen wir darauf vertrauen, dass es recht ist, den zu nehmen, auf den das Los fallen wird. Wir dürfen das, was faktisch geschieht, als etwas verstehen, wodurch Gott uns etwas sagt.

Und genau das Gleiche wie die Apostel damals bei der Nachwahl darf jede und jeder Gläubige auch von seinem persönlichen Leben denken: dass nichts wirklich Wichtiges geschehen wird, durch das ihm oder ihr Gott nicht auch etwas sagen würde. Gar nicht so selten sind das schwierige Dinge, durch die jemand aus der Bahn geworfen wird, durch die er dann aber seinen eigentlichen Weg überhaupt erst entdeckt: eine Krankheit, ein Unfall. Oder dass irgendein Vorhaben einfach nicht gelingt.

Oder aber auch, wenn sich jemand schuldig macht und gerade durch diese Erfahrung merkt, wie viel bisher eigentlich schief gelaufen ist, was er sich alles vorgemacht hat und dass er eigentlich im Innersten ein ganz anderer Mensch ist, als er bislang andere glauben machte oder sogar selber geglaubt hat. Gerade in diesem Fall zeigt sich besonders deutlich, wie ein Einzelner unter unendlich vielen unvertretbar an seinem Platz steht, wie schwer das sein kann, aber auch – wie er den Platz richtig auszufüllen vermag: Schuldig geworden gibt es nur einen einzigen Weg, der wirklich menschlich ist: nämlich einzugestehen: Ja, das habe ich getan. Hier stehe ich. Und ich stehe ein dafür. Wer das tut, spürt unendlich mehr als jeder andere, welche Last es sein kann, ich selbst, ein Einzelner, sein zu müssen mit der ganzen Einmaligkeit meiner Lebensgeschichte. Aber – und das ist tröstlich: Ich darf mit dieser ganzen Last vor Gott treten, darf von ihm her das, was geschehen ist, als etwas verstehen, wodurch er mir etwas sagt, z.B.: Ändere Dein Leben, um Dich nicht ganz zu verlieren. Oder wenn einer gerade noch einmal davongekommen ist, obwohl etwas unvergleichlich schlimmer hätte ausgehen können, dann könnte das für ihn von Gott her bedeuten: Hab‘ doch den Mut, Vertrauen zu fassen, dass Du nicht verlassen und vergessen bist, weil ich an Dich denke. Alles hängt daran, unserem eigenen Leben zuzutrauen, dass es uns etwas von Gott über uns zu erzählen hat. Das wirklich Böse geschieht dort, wo einer sich dieser Botschaft seines Lebens total verschließt.

V
Hätte Judas damals dem Gang der Dinge getraut, hätte er wie die anderen – gewiss durch Angst und Zweifel hindurch – sich daran geklammert, dass Gott so Wichtiges wie das Kommen seines Reiches nicht scheitern lassen wird, er wäre nicht zum Verräter geworden.

Oder der gegenteilige Fall: Als der ehemalige Erzbischof von Paris, Kardinal Lustiger, einmal öffentlich sagte, dass er plane, einen Polizistenmörder, der sich in der Haft bekehrte und ein durch und durch überzeugender Christ wurde, für die Seligsprechung vorzuschlagen, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Medien. Man verstand nicht mehr, dass selbst noch die dunkelste Stunde in einem Menschenleben zum alles umkehrenden Anruf Gottes werden kann. Und doch ist es so.

Es ist wahr, was Kästner sagte: Winzig wie Fliegen sind wir am Fenster der Welt. Aber wahr ist auch, dass wir zugleich einmalig sind, jede und jeder, so bedeutsam für Gott, dass er die Welt, die je die unsere ist, für uns zur Sprache macht, in der er uns sagt, wie er uns meint. Darum ist so wichtig, diese Sprache hören und verstehen zu lernen. Der Anfang dazu wird – wie bei den Aposteln, als sie den Matthias auslosten – das Beten sein.