Mystischer Überschuss  

9. So A: Mt 7, 21-27


I
Vor einigen Jahrzehnten taten sich für eine kurze Zeit vier Weltklasse-Musiker zu einem legendären Quartett zusammen: Arthur Rubinstein spielte das Piano, Gregor Piatigorsky das Cello, Jascha Heifetz strich die Violine, und der Bratscher war William Primerose. Eines Abends traten sie in der Carnegie Hall auf. Mitten im Spiel verlor Rubinstein – wie das bei ihm öfter vorkam – den Faden. Da flüsterte er Piatigorsky zu: Wo sind wir? Und der antwortete: In der Carnegie Hall! – Der berühmte Computerphilosoph Joseph Weizenbaum hat die Episode glaubhaft überliefert.

II
Wo sind wir? – In der Carnegie Hall! Die Antwort war völlig richtig. Aber sie half dem Frager Rubinstein wahrlich nicht weiter. Eher hat es wohl seine Panik gesteigert. Etwas Vergleichbares kann passieren, wenn Menschen – gläubig oder nicht – der Bergpredigt etwas näher begegnen. Sechs Sonntage lang hat sie uns jetzt begleitet. Gerade haben wir im Evangelium die Schlussverse gelesen. Und die – so scheint es – bekunden doch so unzweideutig, wie es nur eben geht, was es mit dieser ersten großen Rede Jesu auf sich hat: Dass es sich um die Magna Charta christlicher Praxis handelt, um den heißen Kern der christlichen Ethik. Und nur, wer Jesu Worten gemäß handelt, so hörten wir, wird mit seinem Lebenshaus auf einem Boden Stand fassen, der wirklich trägt. Und wer es nicht wagt, dieses Hinhören auf den Bergprediger, der sei so unvernünftig wie einer, der sein Haus auf das rutschige Geschiebe einer Sanddüne baute, die sofort nachgibt, wenn sie unter Druck kommt – und alles stürzt ein. Also: Die Bergpredigt. Das ABC eines aus Glauben kommenden Handelns und das Vademecum gar einer am Evangelium orientierten Politik!

III
Aber ist das wirklich schon die Antwort, die jemand sucht, wenn ihm die Bergpredigt begegnet? Denn was heißt das eigentlich: Handeln nach diesen Jesus-Worten. Wir wissen: Jesus hat sie gewiss nicht eins zu eins so und in der Reihenfolge gesprochen, wie sie da stehen. Vielmehr hat Matthäus aus vielfältigen Predigten Jesu Elemente aufgenommen und sie kunstvoll zu einem ungeheuer komplexen Gedicht geformt, einem Poem zumal, das zugleich in Form und Inhalt auf den Dekalog anspielt, also die Gabe der göttlichen Gebote auf dem Sinai, die in die Mitte von Israels Selbstverständnis gehört: Dort wird uns der Mose gezeigt, der vom wolkenverhangenen Berggipfel der Gottesgegenwart die Gesetzestafeln bringt und sie dem Volk verkündet, auf dass es sich auf seinem Weg in die Freiheit des gelobten Landes an sie halte, damit es sich nicht verirre und verloren gehe. Und hier bei Matthäus der neue Mose Jesus, der vom Berg herab, also von Gottes Wohnstatt her das neue Zehnwort proklamiert.

Hat man diese Ähnlichkeit gesehen, springt einem aber – bei aller Kontinuität – der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Dekalog wie von selbst in die Augen: Israel war immer und ist bis heute überzeugt: Die zehn Gebote sind nicht schwer, man kann sie leicht halten. Aber wie ist das bei der Bergpredigt? Erinnern wir uns einfach nochmals an ein paar Passagen aus den letzten Sonntagsevangelien, zuerst die Seligpreisungen: Soll ich wirklich arm sein wollen, um selig zu werden? Traurig sein wollen, hungrig sein wollen, verfolgt werden wollen usw., um selig zu sein? Kann ich das überhaupt wollen wollen, ohne unter den Verdacht krankhafter Selbstquälerei zu geraten – also genau das, was Nietzsche den Christen, diesen Schwächlingen, die ihre Schwäche ressentimentgeladen in Stärke umlügen, immer wieder vorgeworfen hat?

Und dabei sind in dieser Hinsicht die Seligpreisungen noch harmlos im Vergleich zu dem, was in der Bergpredigt dann noch alles folgt. Sie wissen schon – all diese Radikalismen wie etwa der, dass unsere Gerechtigkeit weit größer sein müsse als die der Pharisäer, um vor Gott zu bestehen – wo doch gerade die Pharisäer eine außerordentlich strenge, auf Erneuerung und Vertiefung des Glaubens bedachte Reformgruppe im Israel der Jesus-Zeit war! Also noch viel strenger, noch genauer im Befolgen der Gebote, im Fasten und Beten?

Oder – wohl noch schärfer: Jesu Zuspitzung des Tötungsverbots, gemäß der, der einem anderen das Leben nimmt, als dem Gottesgericht verfallen galt. Und jetzt sagt eben dies Jesus bereits über jede und jeden, die einem anderen zürnen oder ihn auch nur einen gottlosen Narr nennen! Aber nicht nur einem und nicht nur fünf anderen habe ich in meinem bisherigen Leben gezürnt, weil sie mich bis aufs Blut gereizt haben durch ihre Provokationen oder Schlamperei, und nicht nur einen oder fünf habe ich bisher zumindest im Herzen einen gotterbärmlichen Idioten gescholten, weil er mir wieder etwas verdorben hat, was ich doch so gut gemeint hatte und was hätte so schön und, ja – das auch – , für mich so vorteilhaft hätte sein können. Wer von uns – und diesmal spreche ich bewusst so inklusiv und ohne Ausnahme – wer von uns müsste sich gemessen an dieser Norm für seine Todesstunde nicht der tiefsten Danteschen Hölle gewiss sein?

Aber selbst das ist noch steigerbar – und natürlich, wo sonst, dort wo es um Leib und Geschlecht geht: Gegen das Verbot des Ehebruchs, sagt Jesus, verstößt nicht nur, wer solches in die reale Tat umsetzt, sondern schon, wer eine Frau auch nur lüstern ansieht. Radikale, fundamentalistische Kreise in den christlichen Kirchen sehen von diesem Diktum her die überwältigende Mehrheit ihrer Zeitgenossen von heute – sexualisiert durch die Höllenmaschinerie der Mode, der Presse und der Neuen Medien – um die ewige Seligkeit gebracht. Auch katholische Würdenträger bis in den Kardinalsrang lassen sich gelegentlich so vernehmen. Und haben sie nicht recht, solange man Jesu Wort und damit das Evangelium ernst nimmt, weil man doch nicht je nach Gusto und Bedarf das eine Diktum wörtlich, das andere als allegorisch und im übertragenen Sinne verstehen kann?

IV
Nach der Logik von Pitiagorskys Carnie-Hall-Antwort an Rubinstein vorhin hätten sie in der Tat Recht. Der hatte dem Frager exakt richtig das äußerlich Evidente beschrieben. Aber Rubinstein wollte etwas ganz anderes wissen: Er wollte wissen, wo er sich momentan im Musikstück, in dem, was durch seine Seele strömte, befindet, um im richtigen Augenblick wieder den richtigen Ton zu treffen. Pitiagorsky hätte ihm beispielsweise nur zu sagen brauchen: Bei Takt 157 sind wir.

Und ganz ähnlich gibt es auch in der Bergpredigt eine Passage, wo das Innerste so deutlich durch die äußeren Worte scheint, dass von ihr her ein ganz neues Licht auf das Ganze fällt. Die Stelle haben wir vorletzten Sonntag gelesen. Sie wird vorbereitet durch die ungeheuer provokativen Forderungen, die Jesus-Gläubigen sollten denen, die sie auf die rechte Wange schlagen, auch die andere hinhalten, und sie sollten ihre Feinde lieben und für ihre Verfolger beten, dann würden sie Kinder des Vaters im Himmel sein. Und jetzt kommt es:
Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Was passiert da? Ganz einfach: Da sprengt Jesus die Kategorien des Moralischen auf. Ein Gott, der Solches tut, der seine Sonne scheinen lässt über Guten und Bösen und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte, der ist nicht mehr moralisch. Der ist, wenn er denn ein Gott und kein Teufel sein soll, mehr als moralisch.

Nicht nur, wenn du gut bist, ist Gott da, bei dir und über dir und trägt dich. Nein: Auch wenn du böse warst, ist er immer noch da, bleibt er immer noch treu und verlässlich wie die Sonne, die jeden Morgen aufgeht, ob du böse oder gut warst tags zuvor. So ist Gott – der Gott für die Menschen. Es ist schwer, das richtig auszudrücken: Vielleicht kann man es – unbeholfen – das Mystische nennen: Die geradezu verstummen machende Einsicht, besser das Gespür, dass Gott, wenn er Gott ist, auch noch das Böse und Dunkle, dessen ich fähig bin, gleichsam in sich verwindet und mich dadurch, wenn ich vor dieser Einsicht stehe, derart bestürzt, dass mir all mein Verfehltes so auf der Seele brennt, dass ich nur noch voll Wehmut seine Nähe suchen kann und darin frei werde. Das, denke ich, steht auch hinter dem, was die Tradition so missverständlich und auch missbrauchbar Purgatorium, Fegefeuer genannt hat.

Genau von diesem mystischen Überschuss her wird klar, was sozusagen im Innenraum der Bergpredigt wirklich passiert: Jesus führt uns mit der Radikalisierung der alten Gebote in ihre menschliche Unerfüllbarkeit hinein zu der Einsicht, dass wir uns, wollten wir mit unserem Moralisch Sein aus eigenen Tun vor Gott Stand und Bestand gewinnen, in eine gnadenlose Überforderungsethik verstricken, mit der wir uns gegenseitig die Hölle bereiten und die anderen – ganz wie Sartre das einmal gesagt hat – schlichtweg für uns die Hölle sind.

Zu entkommen vermag dem nur, wer sich – unbeschadet eines treuen Mühens um das alltägliche rechte Tun – unverlierbar in Gott geborgen weiß mitsamt seinen Grenzen, seinen Fehlern, seiner Versuchlichkeit. Und wer aus der Gewissheit, in Gott unverlierbar zu sein, die Armut, die Trauer, die Zurücksetzungen, die das Leben mit sich bringt, anzunehmen vermag. Wer die Konflikte, das Versagen und Scheitern im Zusammensein mit anderen, gerade auch denen, die ihm nah und lieb sind, im Raum dieses Gottvertrauens auf sich nimmt und auszutragen versucht: Die Bergpredigt also keine Elitenmoral, an der die breite Masse nur zerbrechen kann, sondern das Gedicht vom Gottes-Kinder-Werden, aus dem allein jenes Maß an Gutem erwachsen kann, dass es das Böse, das es immer auch gibt, aufwiegt und am Ende einmal überwindet.

V
Wenige Kapitel nach der Bergpredigt – in Matthäus 11 – macht derjenige, der so von Gott zu sprechen wagt, sich selbst zum lebendigen Gleichnis dieses Gottesreiches aus Fleisch und Blut in erster Person, zur Autobasileia, wie der große Origenes sagte, wenn er ausruft:
Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen… denn ich bin gütig und demütig von Herzen… Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht
Kommt zu mir, traut euch mir an – mathete, jüngert mich, heißt es wörtlich bei Matthäus, – geht mit mir, dann findet ihr den Herzensfrieden, die Geborgenheit, die ihr verloren habt, weil ihr auf falschen Wegen suchtet. Da begegnet das so schwer auszusprechende Mystische der Bergpredigt gleichsam mit menschlichem Gesicht. Deswegen ist es so wichtig, schon die Seligpreisungen am Anfang dieses großen Gedichts als so etwas wie Selbstportrait Jesu zu lesen und diese Ouvertüre gleichsam in die Lektüre alles Weiteren mitzunehmen, denn dann wird spürbar, dass uns aus diesen Worten keine moralische Keule droht, sondern eine Einladung zur Freiheit geschenkt wird.