Karfreitags-Wahrheit

Karfreitag C: Joh 18,1-19, 42 pass

I.
Immer am Karfreitag hören wir die Passionsgeschichte, wie sie das Johannesevangelium erzählt. Anders als im Fall der anderen drei Evangelien eignet ihr irgendwie eine tiefe Ruhe. Etwas Hoheitliches. Bei Markus endet Jesu Leben mit einem Schrei. Bei Matthäus und Lukas mit hervorgestoßenen Gebetsrufen, Fetzen aus dem Gebetbuch seines jüdischen Glaubens, den Psalmen: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Und: Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist! Ganz anders Johannes: Für ihn hält selbst noch der Sterbende am Kreuz sozusagen die Fäden des Geschehens in der Hand: Er vertraut dem Lieblingsjünger seine Mutter Maria an. In Erfüllung dessen, was ein altes Schriftwort über das Sterben des Gerechten sagt, verlangt er danach, etwas zu trinken, neigt das Haupt und gibt den Geist auf. Wollte man es in Bilder kleiden, so illustrieren die gotischen Kruzifixe mit dem zerschundenen Leichnam, dessen Corpus ein letztes Aufbäumen verzerrt und aus dem geronnenes Blut quillt, das Markus-, Matthäus- und Lukasevangelium. Zu Johannes gehören die romanischen Kreuze, die den, der die Dornenkrone trägt, aufrecht am Kreuz stehend zeigen, das Kreuz beinahe zu einem Thron machen, von dem aus der Gekreuzigte letzte Weisung gibt.

II.
Und doch gibt es auch in der Passion nach Johannes eine Szene, die irgendwie quer steht zu diesem hoheitlichen Jesusbild. Die etwas davon verrät, wie tief dem ganzen Geschehen trotzdem das Wort "Ohnmacht" eingeschrieben ist. Es ist die scheinbar beiläufige Episode im Verlauf seines Verhörs durch Pilatus, wo Jesus sagt:
Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.
Darauf Pilatus:
Was ist Wahrheit? (Joh 18, 38)
Das Interessante kommt aber erst jetzt: Unmittelbar anschließend heißt es von Pilatus, er sei nach seiner Frage hinausgegangen. D.h. er hat Jesu Antwort erst gar nicht abgewartet. Das gibt denen Recht, die des Pilatus Frage immer schon ironisch verstanden – also gestellt unter der Voraussetzung, dass sie sich ohnehin nicht beantworten lasse. Auf geradezu klassische Weise verleiht Voltaire dieser Lesart des Pilatus-Spruchs Ausdruck. Er schrieb:
Es ist traurig für das Menschengeschlecht, daß Pilatus wegging, ohne die Antwort abzuwarten; wir möchten doch wissen, was das ist, die Wahrheit. Pilatus war zu wenig neugierig.
Und wenig später gibt Voltaire selbst die Antwort, um die er sich durch Pilatus’ Weggang gebracht sieht: Wahrheit, sagt er, sei nichts anderes als ein abstraktes Wort, das die Mehrheit der Menschen ohne Unterschied in ihren Büchern und Urteilen anstelle von Irrtum und Lüge gebrauche.

III.
Voltaire wurde dieser Ansicht wegen vor zweieinhalb Jahrhunderten heftig attackiert. Heute ist im Gefolge von Nietzsche für Viele mehr oder weniger selbstverständlich, dass es sich bei so etwas wie Wahrheit – wenn einer davon redet – um eine Illusion handelt, von der man vergessen hat, dass sie eine ist. Aber genau da verläuft die Grenzlinie zu dem, was den christlichen Glauben ausmacht.
Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege,
sagt Jesus von sich. Er versteht also seine ganze Existenz als ein einziges Wahrheitsgeschehen, d.h. durch ihn – durch das, was er sagt, was er tut, wie er ist – wird etwas bewahrheitet, also wahr gemacht. Und was? Oder anders gefragt: Welche Wahrheit wird da bezeugt? Man braucht nur einen kurzen Augenblick den Ursprachen der Bibel nachzulauschen, um zu entdecken, dass in dieser scheinbar beiläufigen Episode der Passionsgeschichte die Grundfrage des biblischen Glaubens ausgetragen wird:
Im Griechischen, der Sprache des Neuen Testaments, steht für Wahrheit "aletheia", meist übersetzt mit Offenbarkeit, Offenlegen – noch besser wörtlich wiederzugeben mit Un-Vergessenheit. In Jesu Geschick, seinem Leben, Wirken und Sterben wird offengelegt, wird dem Vergessen entrissen, wer Gott ist und wer der Mensch ist – und wie beide zueinander stehen. Die Geschichten von den Heilungen und den Dämonenaustreibungen, vom Brotvermehren und dem Weinwunder der Hochzeit von Kana, und allem voran die von den Begegnungen mit den Sündern – mit Zachäus, der Ehebrecherin, der Frau am Brunnen von Samaria etwa – setzen in lebendige Bilder und Szenen um, was Gott für den Menschen sein will: Quelle, aus der man leben und sogar noch die Angeschlagenheiten bestehen kann, Neuanfang, wenn sich einer verrannt und verfangen hat in den Fallstricken der Illusionen, die er sich über sich selbst und das Leben gemacht hat, und – ja, das auch – Anlass zu Fest und Überschwang aus der Entdeckung, dass da einer hinter allem steht, der für uns mehr noch übrig hat als nur das Nötige. Das ist die Wahrheit, für die Jesus mit Leib und Leben Zeugnis gibt.
Mit Leib und Leben – buchstäblich verstanden, wohlgemerkt: Jesus gibt sich selbst daran dafür, dass Gott wirklich so ist, wie er bezeugt, weil er gewiss ist, dass selbst seine Vernichtung die Wahrheit über Gott nicht dementieren kann, für die er einsteht. Genau an dem Punkt wird das, was da "Wahrheit" heißt in der johanneischen Passionsgeschichte, durchsichtig auf einen noch tieferen Grund. In der aramäischen Sprache, die Jesus selbst gesprochen hat, und auch im Hebräischen des Alten Testaments steht, wo wir griechisch "aletheia" lesen und deutsch "Wahrheit" sagen, das Wort "emuna". "Emuna" heißt wörtlich übersetzt "Treue".
Und das, wofür dieses Wort steht – Treue –, das zieht sich wie ein Glutstrom durch die ganze biblische Botschaft von Anbeginn. Es war die Treue, die den Schöpfer bewog, die, die sich aus Misstrauen von ihm abgewandt hatten, nicht einfach fallenzulassen, sondern für sie auch noch jenseits des Paradieses Sorge zu tragen, indem er denen, die nach dem Sündenfall erkannten, dass sie nackt, also schutzlos waren, Kleider aus Fellen machte, wie es in der Schöpfungsgeschichte heißt. Und Noachs Arche. Und der Neubeginn mit Abraham. Und der Auszug aus Ägypten. Und die Errichtung des Königtums, die Israel fordert und die in David und Salomo gipfelt. Und die Propheten, die immer neu geschickt werden, obwohl die meisten von ihnen mit ihrer Botschaft scheitern. Alles Treueakte eines Gottes, dem nichts zu viel ist für die Seinen. Wird, ja kann ein Gott, der so ist, einen fallenlassen, wenn einem alles und nicht nur alles, sondern einer sich selbst genommen wird? Jesu Antwort kennen wir: Sie steht in den Evangelien. "Nie und nimmer" heißt sie. Nie und nimmer wird er uns fallen lassen! Wie könnte einer, der seine Treue immer und immer und immer wieder unter Beweis stellt, sie genau dann aufkündigen, wo alles auf sie ankommt? Darum kann man auf diese Treue nicht nur leben, sondern auch sterben. Weil man gewiss sein darf, auch und gerade in diesem Zu-nichts-werden nicht verlorenzugehen. Das ist die Wahrheit, für die er Zeugnis ablegt und für die Pilatus keine Zeit mehr hatte.

IV.
Hat einer Zeit aber für diese Wahrheit, so erfährt er sie wie von selbst an sich selbst. Vielleicht bleibt einem für diese Wahrheit erst dann wirklich Zeit, wenn man sonst nichts mehr hat, das einem die Zeit nimmt. Das Lebenszeugnis des Grafen von Moltke zum Beispiel deutet mir dahin. Helmuth James Graf von Moltke musste sich am 10. Januar 1945 vor dem Volksgerichtshof unter Leitung des berüchtigten Roland Freisler verantworten. Die Anklage lautete auf Hochverrat. Von Moltke hatte ein Widerstandsnetz gegen die Nazis mit aufgebaut. Er hatte das aus seiner tiefsten Überzeugung als evangelischer Christ getan. Auf die Anklagepunkte antwortete in einer Ruhe und Bestimmtheit, dass der Vorsitzende Freisler Tobsuchtsanfälle bekam. In einem Brief von Moltkes, den der Gefängnispfarrer an Moltkes Frau Freya hinausschmuggeln konnte, schrieb er: Ein Orkan brach los: er (Freisler) hieb auf den Tisch, lief an so rot wie seine Robe und tobte ... Da ich ohnehin wußte, was rauskam, war mir das alles ganz gleich: ich sah ihm eisig in die Augen, was er offenbar nicht schätzte, und plötzlich konnte ich nicht umhin, zu lächeln.
Da ist sie, die Hoheit aus der johanneischen Passionsgeschichte, die gleichwohl ihre Ohnmacht nicht unterschlägt. – Ob ich wohl ein wenig überkandidelt bin?, schreibt von Moltke weiter. Denn ich kann nicht leugnen, daß ich mich geradezu gehobener Stimmung befinde ... Wie gnädig ist der Herr mit mir gewesen! Selbst auf die Gefahr hin, daß das hysterisch klingt: ich bin so voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. Er hat mich die zwei Tage so fest und klar geführt: der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler, und sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir gar nichts gemacht; es war wahrlich so, wie es im Jesaja heißt: Denn so du durch Wasser gehest, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.

V.
Das Lebenszeugnis eines 37jährigen, der glücklich verheiratet und Vater zweier kleiner Söhne ist. Ich bin so voller Dank: Von Moltkes Lebenszeugnis wenige Tage, bevor man ihn an den Galgen hängt. In ihm spiegelt sich die Wahrheit, für die Jesus ans Kreuz ging. Die Wahrheit, die die scheinbar Mächtigen der Welt gar nicht hören wollen und die eben darum umso mächtiger ist und buchstäblich das Oberste zu unterst kehrt.
Jeder und jedem, die oder der glaubt, ist genau diese grundstürzende Wahrheit in die Hände gelegt. Darum ist uns dieser Tag, der Karfreitag, ein Hochfest. Im Gedächtnis des Leidens und Sterbens Jesu vergewissern wir uns dessen, was uns über die Abgründe zu tragen vermag. Allermeist sind es Dinge weit weniger tief als bei von Moltke: Nicht Martyrium, sondern eine zerbrochene Beziehung, ein spaltender Dissens mit jemandem, der einem nahe ist, oder einfach das Vereinsamen, wenn die Jahre vergehen und einer nach dem anderen einem von der Seite schwindet. Und doch jedes davon ein Abgrund für sich. Wer der Karfreitagswahrheit von der Gottestreue traut, hat die Brücke, die hinüberführt, betreten.