Worauf Ostern hinaus will

Pfingstmontag C: Röm 8,14-17

I.
Als vor Jahren ein berühmter indischer Gelehrter erstmals den Westen bereiste, da wurde er unter anderem auch gefragt, was denn das christliche Abendland für einen ersten Eindruck auf ihn mache. Der Gelehrte überlegte eine Weile, dann antwortete er – aus Höflichkeit – mit folgender Geschichte:
In den Bergen des Himalaya wanderte einst ein alter Mann, dem man nachsagte, dass er sehr weise sei. Sein Weg führte über Fels und Grasmatten an einem Bach entlang. Wie der Mann so dahinging, fielen ihm im Bach die hellen Kieselsteine auf. Wie viele Jahre sie wohl schon darin lagen und mitgeschleppt wurden? Einige Zeit später setzte er sich ans Ufer und sah zu, wie die Steine umspült wurden von dem klaren, frischen Wasser und im Licht glänzten, wenn er sie in die Hand nahm. Da kam dem Weisen ein Gedanke. Ich will wissen, dachte er, ob der Stein innen auch so glatt und nass ist. So schlug er den Kieselstein an einem Felsen auf. Der Kiesel splitterte und der Weise sah: Innen war der Stein hart und trocken. Da wurde der Mann nachdenklich und sprach bei sich: Wie undurchdringlich, wie hart muss doch die Oberfläche des Steines sein, dass nicht einmal nach so langer Zeit das klare Wasser hineinkommt.

II.
Seit zwei Jahrtausenden umflutet die Christen die Frohe Botschaft des Evangeliums. Und ihre Wirkung nach innen? Ist die Welt, sind die Menschen anders geworden? Wir können auch viel hautnaher Gewissenserforschung halten: Fünfzig Tage haben wir jetzt Ostern gefeiert. Fünfzig Tage haben wir Halleluja gesungen. Bloß so – oder, weil wir wirklich begriffen haben, dass sich mit Ostern doch bis zum Innersten hin etwas gewendet – zum Guten gewendet hat – für uns? Und wenn ja: Was genau ist geschehen? Könnten Sie einem Nichtchristen, könnten Sie sich selber darüber – über ihr eigenes letztes Fundament – jetzt aus dem Stand Rechenschaft ablegen?

III.
Wenn Sie es können möchten, dann lade ich Sie ein, einen Moment bei Paulus in die Schule zu gehen. In der heutigen Lesung aus dem Römerbrief hat dieser Apostel in vier Versen auf den Punkt gebracht, was das Christliche des Christen ausmacht, wie es entsteht und welche Wirkung es in ihm zeigt. In Graniten gemeißelte Worte sind das, wert, mit güldenen Buchstaben geschrieben zu werden, wie Luther einst meinte. Schon der erste Vers: Alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes. Punkt. In einem einzigen Wurf benennt Paulus da den gründenden Grund des Christseins. Im Grunde ist es eine einzige Provokation, denn: Was sucht denn ein so genannter moderner Mensch mehr als dies, dass er sich selbst bestimme ohne Einschränkung – Autonomie ohne wenn und aber. Doch Christsein, sagt Paulus, hebt an mit dem glatten Gegenteil davon: Vom Geist geleitet, besser: getrieben werden – so beginnt es: Ein Anderer bestimmt mein Handeln. Etwas ergreift von mir Besitz, um mich meinen gewohnten, eingeschliffenen Bahnen zu entreißen. Christ wird, wer mit der extravaganten Wahrheit zu experimentieren beginnt, dass er nicht aus sich selber lebt. Eine Wahrheit, die mich an der Wurzel packt und umorientiert, bis zum Grunde. Und woraufhin umorientiert? Dass Predigt, Praxis und Geschick Jesu von Nazaret mein Dasein gänzlich bestimmen – und nicht mehr die selbstbezügliche Bewegung meiner eigenen Freiheitssuche. In der Auferstehung dieses Jesus hat Gott selbst erfahrbar, manifest gemacht, dass solche Umorientierung des ganzen Lebens nicht in einer Sackgasse endet und nicht ins Gegenteil aller Freiheit mündet, sondern: dass gerade solche radikale Übereignung an Gott – wie Jesus sie gelebt hat –, dass gerade sie ein Menschenleben so werden lässt, wie alles Leben zutiefst zu sein sich ersehnt: gerettet, ganz, endgültig und frei – Gott entsprechend. Deshalb sagt Paulus: Alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes, wie dieser Jesus Sohn Gottes war, er, der ganz vom Geist getriebene und von seiner Glut verzehrte. Da will unser Christwerden hin: Gottes Sohn, Gottes Tochter zu werden – untrennbar ihm zugehörig und geliebt. Ein und derselbe Mensch kann Gottes Sohn werden oder der Erbauer von Konzentrationslagern. Von Gott beseelter Bruder Jesu oder zynischer Despot, der um der Macht und des Reichtums willen über Leichen geht. Alles liegt daran, was oder wer einen leitet und treibt.
Wenn sich aber nun einer wirklich vom Geist Gottes treiben lässt, wie er ihn von Jesus kennt, was geschieht dem? Paulus sagt: ... Ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsst. – Er will uns sagen: Wer sich im Verzicht auf unbedingte Selbstbestimmung Gott übereignet, der gewinnt gerade in dieser Übereignung Freiheit – mehr noch: eine Freiheit, die nicht mehr begleitet wird von der Angst wie von einem Schatten. Jede menschliche Freiheit – so kostbar sie ist, findet sich unentrinnbar an diese Begleiterin Angst gekettet, weil sie sich bleibend gefährdet und zerbrechlich erlebt. Dem vom Geist Gottes Getriebenen dagegen ist eine Freiheit zugesagt diesseits dieser Verkettung. Und dies deshalb, weil sie als gelebte keinen Gegensatz mehr kennt zwischen Gott und Mensch. Freiheit, die sich einer durch tätige Liebe eindeutig gewordenen Lebenspraxis verdankt. Freiheit aus jener Herzensruhe, die dort einkehrt, wo einer im Wagnis des Glaubens die Zwiespältigkeiten seines Daseins aufgehoben hat. In solche gelöste Freiheit führt Gottes Geist, wer sich von ihm leiten lässt. Diese Freiheit macht uns zu Söhnen und Töchtern Gottes – zu Menschen, die ihm ganz entsprechen.
Der Apostel versteht also das Christwerden als einen Vorgang radikalster Befreiung – Befreiung durch Bindung an Gottes Geist, wie er uns in Jesus kundgeworden ist. Paulus behauptet, es gebe sogar ein sinnenfälliges Zeichen dafür, wo diese Befreiung angefangen hat, Wirklichkeit zu werden: Überall dort, wo Menschen – be-geistert – Gott ihren Abba, ihren lieben Vater nennen. Abba, Vater aber haben die frühen Christen nirgendwo anders gerufen als in ihren Gottesdiensten. So verweist uns also Paulus auf dieses unser Beten und Feiern hier als den Ort, wo wir überhaupt erst einmal in Berührung kommen mit der Umorientierung unseres Daseins – und eben auch damit, dass sie wahr sein könnte und nicht bloß ein frommes Hirngespinst. Denn – so fährt der Apostel fort: So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Wo Menschen sich gedrängt fühlen, aus der Tiefe ihrer Seele Gott ihren Vater zu rufen, da hat die Befreiung schon begonnen. Da wird etwas gegenwärtig von dem Getriebensein durch den Geist, weil wir Menschen doch von uns aus überhaupt kein Recht hätten, zu Gott lieber Vater zu sagen im Angesicht all dessen, was wir an Abkehr und Verweigerung aufrichten gegen ihn. Jedoch er selbst ermutigt uns im Treiben des Geistes dennoch dazu, so zu rufen, um in unserem Rufen selbst auch noch das Trennende von unserer Schulter zu nehmen. Das ist ja die menschliche Rückseite unserer Anbetung und unseres Gottesdienstes: dass wir mit der Bürde des Unerlösten, mit der Last der Schuld, der Glaubensnot eintauchen in die Atmosphäre des Geistes – des Abba-Rufens, damit uns die Last leicht wird und wir einen Neuanfang in unserm Gottsuchen wagen.

IV.
Durch den gottesdienstlichen Lobpreis also treten wir unverbrüchlich ein in das Geleitetwerden durch den Heiligen Geist. Durch diesen Anfang bricht unsere Umorientierung an, die uns zu Kindern Gottes macht. Doch Paulus fügt sofort hinzu, dass dieser Neubeginn nach innen gleichzeitig und untrennbar seine Konsequenzen nach außen hat. Er sagt: Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um auch mit ihm verherrlicht zu werden.
Mit ihm leiden meint dabei: Mit ihm nicht einverstanden sein mit dem menschenverachtenden Kult der Macht. Mit ihm leiden heißt, Widerstand leisten gegen die Orgien der Verschwendung auf Kosten derer, denen man ungeschoren das Nötigste zum Leben vorenthält. Mit ihm leiden heißt, Zustimmung verweigern, wenn man uns Projekte technischen Größenwahns aufzwingt, die sich letztendlich doch nicht scheuen, auch Menschenopfer einzukalkulieren als Preis eines vorgeblichen Fortschritts: An all dem sich reiben, das heißt solidarisch sein mit Jesus – auf seinen Spuren Widerspruch leisten, wo Menschen Menschen nicht mehr Mensch sein lassen und deshalb Gott auch nicht mehr Gott sein darf. Mit ihm leiden an all dem, das bedeutet: getrieben werden von Gottes Geist. Mein Dasein von totalitär gewordenen Haben-, Herrschen- und Geltenwollen umorientieren zur Freiheit von allen menschlichen Zwängen, jener Freiheit, die uns Kinder Gottes und Geschwister sein lässt über alle Grenzen hinweg.

V.
Wenn auch nur ein Funken Glaubensernst in uns glüht, dann müsste uns der Eindruck vom christlichen Westen, den der asiatische Gelehrte so dezent in der Geschichte aussprach, unter den Nägeln und auf der Seele brennen. Wenn das geschähe, dann wäre diese Unruhe wohl der erste Anhauch des Gottesgeistes, der uns zu treiben beginnt. Und unser Miteinander-Abba-Sagen jetzt will diesen Funken schüren, damit er nicht wieder ausgeht. Paulus hilft uns dazu. Wahrlich Worte, die es wert sind, mit güldenen Buchstaben geschrieben zu werden – wenigstens mit Tinte auf einem Zettel hinter dem Spiegel daheim: Römerbrief 8, 14-17. Würden wir dem Geist trauen, Christsein würde für uns wieder so aufregend, wie es damals zu Pfingsten war.