Was reicht

1 Tim 6,6-11. 17-19


I
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Seit ein paar Jahren kann man in großen Geschäften und Einkaufszentren etwas Seltsames beobachten. Ab Wochenmitte stauen sich immer an einer bestimmten Kasse die Leute. Am Freitag stehen sie in endloser Schlange. Und manchmal schreit die Kassiererin entnervt: Gehen Sie doch bitte anderswo hin! Ich hab’ keine Zettel mehr. Es sind Lotto-Annahmestellen. Ein Jackpot ist entstanden, d.h. ein paar Wochen lang hatte es keinen Hauptgewinn gegeben. Dann sammelt sich das Geld, bisendlich wieder einer sechs Richtige hat. Einmal standen mehr als 16 Millionen Euro im Feuer, die größte Summe seit Bestehendes Glücksspiels. Die passionierten Lottospieler wurden fast verrückt, setzten ein, was sie nur konnten. Neue Spieler kamen in
Scharen hinzu. 16 Millionen Euro!


II .
Die Chance, den großen Treffer zu landen, stand bei eins zu 140 Millionen, hatte ein Statistiker errechnet. Anders gesagt: Nur wer regelmäßig 140 Millionen Wochen lang einen Tippschein abgegeben hätte, könnte sich eine sichere Chance auf den Gewinn ausrechnen. Er hätte dann aber vor ungefähr 270 000 Jahren mit dem Lotto-Spielen anfangen müssen, mitten in derAltsteinzeit. Irre. Aber: 16 Millionen! Die Chance, vom Blitz erschlagen zu werden, liegt einige hunderttausendmal  höher Trotzdem hoffen zahllose Menschen: Vielleicht! Vielleicht bin’s ich.


III.
Und wenn’s eine oder einer wäre? Die wenigsten wüssten mit den dreißig Millionen überhaupt etwas anzufangen. Fürs Essen und Trinken, für ein Dach über dem Kopf, für ein paar Mark zur Sicherheit auf der Kante bräuchten sie nur einen winzigen Bruchteil davon. Es gibt Dutzende von Berichten, wie Lottogewinner regelrecht durchdrehen und ihre paar Hunderttausender die sie gerade gewonnen haben, völlig sinnlos verschleudern: In Champagner baden z.B.; sich 30 Pelzmäntel auf einen Schlag kaufen, drei Wochen lang von einem Luxus-Hotel den Partner wechseln wie das tägliche Hemd. Und dann ist alles weg. Wie ein Traum. Das böse Erwachen aber hält an.


IV.
Wie kann so etwas überhaupt zustande kommen? Eine der schlüssigsten Antworten, die ich kenne, steht in der heutigen Lesung: Wir haben nichts in die Welt mitgebracht, und wir können auch nichts mit hinausnehmen. – Das wissen alle untrüglich. Man kann es nicht wissen wollen. Aber selbst dann wird man diese Wahrheit nicht los. Darum versuchen Menschen wie die erwähnten Lottogewinner aus Panik, den großen Reichtum, der ihnen zugefallen ist, in ihrem kleinen Leben unterzubringen, ihn sozusagen in ihre endliche Lebensphase hineinzustopfen. Und weil das mit normalen Mitteln nicht geht, verrenken sie sich dabei, nicht selten bis zur eigenen Zerstörung.

Dabei gäbe es einen Weg, die Güter, die man gewonnen hat, zu genießen und trotzdem nicht Schaden zu erleiden. Der Timotheus-Brief beschreibt ihn so: Wenn wir Nahrung und Kleidung haben, soll uns das genügen. Und wer mehr als das hat, soll freigebig sein und andere an seinen Gütern teilhaben lassen. So jemand tut sich selbst Gutes, indem er sich mit dem bescheidet, was unserem Menschenmaß entspricht. Und wer gläubig ist, darf gewiss sein, durch sein Tun das zu vollbringen, was man früher „gute Werke“ nannte – und nicht selten dahingehend missverstand, dass man auf diese Weise seine ewige Seligkeit aus eigener Anstrengung verdienen könnte. Gleichwohl ist der Kern der Sache wahr: Wer freigebig zu sein vermag, wird im Maß des Menschlichen zu einem kleinen Sinnbild jenes gönnenden Gottes, den die Bibel verkündet – und verwirklicht>darin etwas von jener Gottebenbildlichkeit, die nach der Überzeugung vieler geistlicher Meister das Seligsein der Erlösten
ausmacht.


V.
Freilich haben über weite Strecken Leute in ein paar wenigen reichen Ländern jenes Menschenmaß gänzlich aus den Augen verloren. Zwei Drittel der Bürger in Deutschland gehören auch dazu. Und das andere Drittel, das jeden Euro dreimal umdrehen muss, kann oft gar nicht anders, als nach derselben Logik des Immer-Mehr zu denken. Darum tun die einen bald gar nichts mehr anderes als zu investieren und zu spekulieren. Und die anderen kritisieren und fordern. Ein Wort kommt auf beiden Seiten fast überhaupt nicht mehr vor: Danke. Die Reichen haben es nicht mehr nötig, weil sie über mehr als genug verfügen und überzeugt sind, dass sie alles sich selbst, ihrer Leistung und Raffinesse verdanken. Und die anderen, die auf der Schattenseite, haben vor diesem Hintergrund auch keinen Anlass mehr zu danken, weil sie, was ihnen zugestanden wird, als schäbiges Almosen vom Tisch der Reichen empfinden.


VI.
Wo Menschen nicht mehr danke sagen, wird es roh im Umgang miteinander. Erinnerten sich die, die genug und mehr als genug ihr Eigen nennen, daran, dass sie nichts mitgebracht haben, dass ihnen im Letzten also alles geschenkt wurde, dann würden sie das „danke“-Sagen nicht vergessen. Wer aber selber dankt, kann nicht mehr eigensüchtig sein. Zu teilen und zu schenken, wird ihm oder ihr nicht schwer fallen. Denn zum Danken gehört wie von selbst, andere teilhaben zu lassen an dem Guten, das man geschenkt bekam. Und wer von einem Dankbaren beschenkt wird, kann einerseits dankbar sein, ohne seine Würde zu verlieren. Wird er doch nicht mit Almosen abgespeist, sondern als Teilhaber dessen anerkannt, was dem Geber ungeschuldet zufiel.

Heute am Erntedankfest denken wir daran, dass nicht einmal die einfachsten Dinge zum Leben, das tägliche Brot und ein bisschen was dazu selbstverständlich sind. Wer dankt dem noch dafür, der das Korn wachsen, der Äpfel und Trauben und das viele andere auch reifen lässt? Dass Menschen in unserem reichen Land hungern und zweitausend Kilometer weiter sogar verhungern, kommt einzig daher, dass die meisten hier zu wenig danken. Dankend würden sie an die denken, die Not leiden Beiden wäre damit geholfen. Dem einen, dass er genug, dem anderen, dass er nicht zu viel hat. Beides schadet uns gleichermaßen.

Auch das will bedacht sein, wenn um die Frage gestritten wird, ob denn nicht die Ladenschließung an den Sonn- und Feiertagen ganz fallen sollte. Was steht dahinter? Die These, dass, je mehr konsumiert wird, es allen besser geht. Eine These, die man nur noch hirnrissig nennen kann. Denn Wohlstand durch Wachstum gibt es schon heute nur dadurch, dass viele ausgegrenzt werden, viele hier bei uns, die einfach nicht mithalten können, und noch viele mehr in der Ferne, die mit Mindestlöhnen ausgebeutet werden, um die Produkte ihrer Arbeit bei uns billig auf den Markt zu bringen. Der Markt ist totalitär geworden, allbeherrschend. Karl Marx, heute wie ein toter Hund behandelt, ist in manchem verdammt aktuell. Das wird sich binnen kurzem bitter rächen. Und wer denkt an die künftigen Generationen, wenn wir alles auf Verbrauch stützen? Was ist mit denen, die auch ein Recht auf eine bewohnbare Welt und ein menschenwürdiges Leben haben?

Das alles sind Fragen, drastisch genug. Vom Geistlichen habe ich noch gar nicht gesprochen. Aber es ist genauso wichtig. Was passiert mit unserer Seele, wenn auch am Sonntag das Geben und Nehmen herrscht? Der Tag, der bisher Sinnbild für die Freiheit von den werktäglichen Zwängen für das Fest war, verdunstet – oder glauben Sie im Ernst, dass es bei den paar Ausnahmen bleibt, die derzeit genehmigt sind? Nur wenn der Sonntag Dank-Tag bleibt, kann er irdisches Sinnbild für das sein, was uns jenseits von Mühe, Pflicht und Leistung versprochen ist. Und nur so hat jene „Aufmerksamkeit des Herzens“ eine Chance, von der Simone Weil mehrfach gesprochen hat. Jener achtsame Umgang mit dem eigenen Leben, mit den Menschen und Geschehnissen ringsum, der mich vor einer Erstarrung im Selbstverständlichen und seiner Routine bewahrt.

Nicht umsonst danken jüdische Beter bis heute dreimal täglich „für die täglichen Wunder, die unaufhörlichen“. Das ist ihre Art, dem Vergessen und der Undankbarkeit des menschlichen Herzens zu widerstehen. Eine andere Form des Widerstands, die mich beeindruckt, hat ein geistlicher Meister unserer Tage, der Münchener Pfarrer Paul Ringseisen, gefunden: Er übt das rechte Achtsamsein dadurch ein, dass er das, was wie selbstverständlich daherkommt, laut beim Namen nennt: In der Frühe: Heißer Kaffee – wie gut! Beim Entzünden einer Kerze: Licht! Beim Aufdrehen der Heizung: Wärme! So geht er andächtig mit den Dingen um. Andacht hat mit Danken zu tun. Es hilft mir, schreibt er, wenn ich mich hörbar für die vielen Dinge bedanke, die mir wohl und gut tun. In Zeiten, die nicht leicht sind für ihn, führt er bewusst ein Tagebuch des Dankens, weil ihm – mit einem Wort Paul Celans gesagt – diese Aufmerksamkeit im alltäglichen Leben als „das natürliche Gebet der Seele“ gilt. In Rose Ausländersmit „Morgengedicht“ betiteltem Poem heißt es:

Du darfst die Dinge neu ordnen
Farben verteilen
Und wieder
„schön“ sagen
an diesem Morgen
du Schöpfer und Geschöpf

Genau diese Gabe vergegenwärtigt uns der heutige Tag. Erntedank kommt uns Stadtmenschen im ersten Moment vor wie einalter Zopf von gestern. In Wirklichkeit hängt unsere Zukunft von ihm ab.