Evangelium von der verlorenen Fassung

11. Sonntag C: Lk 7,36-8,3

I.

Am 14. August 1943 traf sich im kalifornischen Santa Monica eine illustre Gesellschaft deutscher Emigranten. Sie feierten den Geburtstag eines der großen Literaten aus ihren Reihen. Alfred Döblin wurde an diesem Tag 65. Man sang Berliner Lieder, feierlich und in Wehmut. Fritz Kortner trug Texte von Döblin vor. Am Schluss hielt der Geehrte selbst eine Rede. Nach den üblichen Dankesworten fing er an, den moralischen Relativismus zu geißeln und plädierte für feste Maße, die allein aus der Religion kommen könnten. Die Anwesenden, zumeist Agnostiker, religiös unmusikalisch, wie man heute gern sagt, waren irritiert, um das Mindeste zu sagen. Aber dann kam noch die Bombe: Döblin gab öffentlich bekannt, dass er katholisch geworden war.

Bert Brecht war auch dabei. Döblins Enthüllung schlug ihn dermaßen vor den Kopf, dass er mit einem eigenen Gedicht darauf reagierte. Es trägt den Titel "Peinlicher Vorfall":

Als einer meiner höchsten Götter seinen 10 000. Geburtstag
beging
Kam ich mit meinen Freunden und meinen Schülern, ihn zu feiern
Und sie tanzeten und sangen vor ihm und sagten Geschriebenes
auf.
Die Stimmung war gerührt. Das Fest nahte seinem Ende.
Da betrat der gefeierte Gott die Plattform, die den Künstlern gehört
Und erklärte mit lauter Stimme
Dass er soeben eine Erleuchtung erlitten habe und nunmehr
Religiös geworden sei und mit unziemlicher Hast
Setzte er sich herausfordernd einen mottenzerfressenen Pfaffenhut auf
Ging unzüchtig auf die Knie nieder und stimmte
Schamlos ein freches Kirchenlied an, so die irreligiösen Gefühle
Seiner Zuhörer verletzend, unter denen
Jugendliche waren.
Seit drei Tagen
Habe ich nicht gewagt, meinen Freunden und Schülern
unter die Augen zu treten, so
Schäme ich mich.

II.

Eine Parodie natürlich, grober Klotz auf groben Keil. Aber Brecht wäre nicht Brecht, nicht der Bibelkenner und –liebhaber zumal, der er war, würde er nicht auch in der entrüsteten Replik noch Maß genommen haben am religiösen Original und so sub contrario etwas von dessen Wahrheit bezeugen. Denn auch in der Bibel wird im Zusammenhang mancher Gottesbegegnungen von Vorfällen erzählt, die peinlich sind in Menschenaugen, ihrer Innenseite nach aber Sternstunden der Gotteswahrheit.

III.

Besonders eindrücklich geschieht das auch in dem, wovon das heutige Evangelium erzählt. Rabbi Jesus wird von einem frommen Pharisäer zum Essen eingeladen, gewiss nicht ohne das Interesse, mehr darüber zu erfahren, was denn hinter seiner Art, von Gott zu sprechen, stecke. Die Türen stehen – wie damals üblich – offen, die Vorübergehenden können die Tischgesellschaft sehen, etwas von den Gesprächen mitbekommen. Da tritt eine Frau hinzu, stadtbekannte Sünderin, will heißen, aus dem anrüchigen Gewerbe der käuflichen Liebe. Sie kam mit einem Gefäß voll Salböl, offenkundig, um Jesus aus Dankbarkeit einen gestischen Ehrendienst zu erweisen, durchaus nicht ungewöhnlich übrigens, wenn auch nicht alltäglich. Sie muss zu solcher Dankbarkeit einen bewegenden Grund aus einer vorausgegangenen Begegnung mit Jesus gehabt haben. Wir erfahren darüber nichts, können bloß ahnen, dass es zutiefst mit ihrem Leben, ihrem Geschick zu tun gehabt haben und etwas zutiefst Befreiendes gewesen sein muss.

In die illustre Gesellschaft der Frommen hinein getreten, kommt sie aber gar nicht bis zu Jesu Haupt, das sie doch hatte salben wollen. Sie hält – gleichsam vor Ehrfurcht erstarrend inmitten der klerikalen Hautevolee ringsum – bei seinen Füßen inne, möchte wenigstens diese küssen, auch wieder ein Zeichen der Ehrerbietung, das durchaus üblich sein konnte. Aber noch bevor sie das zu tun vermag, kommen ihr schon die Tränen, so sehr, dass diese auf Jesu Füße fallen. Da verliert die Frau die Fassung ganz, löst ihre Haare und trocknet die tränenbenetzten Füße Jesu damit ab. Wie peinlich – die ganze Tischgesellschaft verstummt pikiert, gilt doch das Haarelösen einer Frau vor Männern als Schamlosigkeit par excellence. Der Überschwang ihres liebenden Dankes hat jegliche Form zu Bruch gehen lassen. Die Wiederbegegnung mit Jesus hatte sie überwältigt.

Das eigentlich Skandalöse an der ganzen Szene freilich war noch etwas anderes: Dass Jesus das, was die Frau tat, schweigend geschehen ließ – und also seine Zustimmung gab. Auch wenn der Pharisäer dezent für sich behält, was er denkt, ist Jesus die Situation vollkommen klar, und darum fasst er sie in ein Gleichnis: Ein Gläubiger, zwei Kreditnehmer. Der eine schuldet das Zehnfache des anderen. Beide sind zahlungsunfähig. Der Gläubiger erlässt beiden die Schuldenlast. - Haben Sie es gehört? So eben ging schon wieder eine Form zu Bruch. Denn in dieser Welt gibt es keine Gläubiger, die Schulden erlassen. Das gibt es nur in der Jesus-Welt, die er basileia, Königreich Gottes nannte. Die Kategorien unserer gelebten Welt fassen es nicht. Und vor dem Gläubiger, der das tut, verkehren sich folgerichtig die Maßstäbe von groß und klein: Wer weiß und anerkennt, dass er große Schulden hat, weiß besser, wer und wie sein Schuldner ist, als der, der kleine Schulden hat. Die größeren Schulden machen den großen Liebenden. Das ist schwer zu fassen, wenn man vorab überzeugt ist, Bescheid zu wissen und auf der richtigen Seite zu stehen.

Gleichwohl hat der Pharisäer Simon genau verstanden, darum kommt seine Antwort so zögerlich: Ich nehme an, sagt er, griechisch: hypolambano, also: ich unterstelle, der wird ihn mehr lieben, der die größeren Schulden hatte. So redet jemand, der das eigentlich gar nicht hören möchte, was er selbst aussprechen muss, weil sich in ihm etwas dagegen sträubt und er verbergen will, dass er aus der Fassung ist. Denn große Liebe haben können – und um die geht es doch auch dem Pharisäer Gott gegenüber an erster Stelle -, große Liebe haben können heißt anerkennen, auch große Schulden zu haben, nicht kleine – und vor allem nicht kleine, die dadurch klein sind, dass die Schulden anderer als groß hingestellt werden – wie die der Sünderin.

IV.

Dreimal ging da jetzt die Fassung verloren: bei der Frau, im Gleichnis und beim Simon. Wenn das stimmt, kann es eigentlich gar nicht mehr überraschen, dass unser Evangelium von der verlorenen Fassung im entscheidenden Vers auch gleich noch selber und buchstäblich aus dem Tritt kommt, also Fassung verliert. Denn da steht ein Satz, mit dem Jesus das soeben durch die Frau Geschehene und von ihm ins Licht des Gleichnisses Getauchte zusammenfasst – aber der passt überhaupt nicht in den Duktus der Geschichte. Ein "widerspruchsreiches Ding" hat ein berühmter Exeget Anfang des 20. Jahrhunderts darum unsere Stelle genannt, ein anderer nennt ihre Erzählung "geknickt", ein dritter nimmt gar zur Philosophie seine Zuflucht und spricht von "Dialektik". Und unsere gängige Übersetzung spricht so unklar, dass das Problem regelrecht verschleiert wird. Aber da steht im 47. Vers, nachdem Jesus nochmals aufgezählt hat, was die Frau soeben alles an ihm und für ihn getan hat – Tränen auf die Füße, mit dem Haar getrocknet, unablässig die Füße geküsst, mit Myrre gesalbt -, da steht: Um deswillen sage ich dir: Vergeben sind ihre Sünden, die vielen, denn sie liebte viel; wem aber wenig vergeben wird, der liebt (auch nur) wenig.

Der zweite Halbsatz – wenig vergeben, wenig Liebesantwort – steht außer Frage. Aber der erste! Würden wir nicht erwarten: So viel Liebe hat sie mir soeben erwiesen, weil ihr vergeben wurde? Stattdessen steht umgekehrt da: Vergeben sind ihre Sünden, die vielen, denn sie liebte viel – weil dies, die Liebe, darum jenes, die Vergebung! Die Liebe also als Grund, nicht also Folge der Vergebung. Das steht quer zum Gleichnis unmittelbar vorher und zu Jesu Vergebungsspruch unmittelbar danach. Das lässt sich nur noch verstehen, wenn man in diesem Vers etwas von einer tieferen Wirklichkeit aufblitzen sieht, die noch hinter allem Umkehren und Vergebenwerden, hinter aller Reue und Lossprechung liegt: die Wirklichkeit einer immer schon allem zuvorkommenden Liebe, ohne die überhaupt nichts in Gang käme. Thomas von Aquin hat das gesehen, als er einmal meinte, im Grunde käme die Lossprechung in der Beichte immer schon zu spät, weil alles Entscheidende bereits zwischen Gott und Sünder geschehen sei im Augenblick der Reue. So wie in unserem Evangelium das, was sich Jesus schweigend gefallen ließ, am Ende ins Wort der Vergebung gehoben wird, wird in der Lossprechung leiblich-zeitliche und darum für uns Menschen greifbare Wirklichkeit, was doch schon vorweg in Gottes Ewigkeit gewirkt war, gewirkt aus dem Stoff der Liebe, der Gottes und der des Menschen – denn woher auch sollte Reue entspringen, wenn nicht aus einem Glimmen nicht erloschener Liebe! Darum ist wahr, dass die Liebe im Tiefsten der Grund jener Vergebung ist, als deren Folge zugleich sie sich geltend macht.

V.

Mir will freilich scheinen, dass hinter diesem mehr als dichten Ineinander von Liebe und Vergebung noch etwas anklingt, das sich gar nicht laut sagen lässt und vielleicht nur dann sich andeutet, wenn man sich etwas in die Atmosphäre der Szene mit Jesus und der Sünderin hineinziehen lässt, auf jene Weise träumerisch und im Medium der Phantasie, wie Ignatius von Loyola die Betrachtung der Schrift als ein Verkosten und Verspüren mit allen Sinnen empfiehlt: Natürlich wird dieses "denn sie liebte viel" von der Frau im Blick auf das gesagt, was sie soeben vor Simons und der anderen Augen an Jesus getan hat. Aber man kann nicht nicht mithören, dass es von jemand gesagt wird, der um seiner Liebesdienste willen geächtet ist - geächtet, weil sie viel geliebt hat. Wie wenn ihr sündiges Leben ihre Seele dünnhäutiger, empfänglicher machte für Gottes gnädige Zuwendung. Das so Überschwängliche wie Zärtliche ihrer Gesten hat dort seinen Ursprung, im Offenen ihrer suchenden, sehnenden Seele hinter allem sichtbaren Tun. Der gute Simon wird das nicht verstehen können, keine und keiner, die der Überzeugung sind, ihre Schuldigkeit getan zu haben. Man muss darauf nicht mit Absicht sündigen. Aber wer einmal gefallen ist und das vor sich nicht verbirgt, wird wissen, dass unten Gottes Wege kürzer sind.