Das Wesentliche verfehlt

Kirchweihe Dominikanerkirche 2009: Mk 9, 30-37. Zugleich Gedanken zum Schisma der Pius-Bruderschaft

I
Der Sufi-Meister Hakim Dschami pflegte seinen Schülern folgende Begebenheit zu erzählen: Ein Bettler klopfte an eine Türe und bat um eine Gabe. Der Eigentümer des Hauses kam heraus und sagte: Es tut mir leid, aber es ist niemand zu Hause. Darauf antwortete der Bettler: Ich möchte auch niemand sehen, ich möchte etwas zu essen.

II
So entlarvend kann ein einziger Satz sein. Des Bettlers Erwiderung deckt auf, wie der Hausherr mit seiner falschen Antwort dem Wesentlichen aus dem Weg geht. Eine ganz ähnliche Situation erzählt uns das heutige Evangelium. Nur: Jesus muss überhaupt nichts mehr sagen: Er fragt bloß. Und die Jünger schweigen nur noch, um das Groteske ihres Handelns wenigstens nicht auch noch aussprechen zu müssen. Jesus möchte sie behutsam heranführen an das Geheimnis seines Leidens, die erlösende Kraft der Machtlosigkeit des Kreuzes. Und die Jünger disputieren derweil, wer unter ihnen der Größte sei, wer am meisten die Wahrheit besitze und darum das Sagen habe.

III
Was damals den Jüngern unterlief – das Wesentliche zu verfehlen –, das wird zu den bleibenden Gefährdungen der Christinnen und Christen gehören, solange ihre Gemeinschaft – die Kirche – aus Menschen von Fleisch und Blut besteht. Manchmal schon in der Kirchengeschichte ist das Wesentliche auf beängstigende, bestürzende Weise verdunkelt worden, wie damals auf dem Weg durch Galiläa, seit Jahrhunderten aber nicht mehr so abstrus und zugleich so drastisch wie in unseren Tagen durch das Schisma der Pius-Bruderschaft. Ich denke, man kann das heutige Evangelium kaum wachen Sinnes hören, ohne an die Diskussionen der letzten Wochen denken zu müssen, die mit den Namen des Erzbischofs Marcel Lefebvre und seiner Anhänger verbunden sind. Vielmehr wird gerade dieses Evangelium helfen, verantwortlich und aus dem Blickwinkel des Glaubens das Geschehene zu beurteilen. Dies scheint umso dringlicher, als sich einerseits die persönliche Meinung Vieler auf nicht viel mehr als ein paar reißerische Schlagzeilen stützt und andererseits der jüngste amtliche Umgang mit der Sache, wie Sie alle wissen, zumal durch seine verheerenden Kommunikationspannen erst recht nicht nur das sprichwörtliche Öl, sondern geradezu Kerosin ins Feuer gegossen hat. Aber nicht darum soll es im Folgenden gehen, sondern um die Wurzeln des Ganzen.

IV
Erzbischof Marcel Lefebvre, ein französischer Ordensmann, der Bischof in Afrika geworden war, opponierte von Anfang an gegen die Entwicklungen, die sich seit Papst Johannes XXIII. in der katholischen Kirche vollzogen, obwohl er noch einen Gutteil der Dokumente des II. Vatikanischen Konzils mit unterschrieb. Was steht dabei eigentlich zur Debatte? Es geht – dem äußeren Anschein zum Trotz – nicht um die gottesdienstliche Praxis. Es geht auch nicht um Moral. Es geht bei Lefebvres Traditionalismus an allererster Stelle um Politik. Lefebvre und seine Anhänger kämpfen um den Erhalt eines dezidiert vorneuzeitlichen und damit anti-modernen Bildes von Welt, Gesellschaft und Kirche. Zwei kleine Episoden mögen das schlaglichtartig beleuchten: Lefebvre war lange Zeit Erzbischof von Dakar im afrikanischen Senegal. Schon damals – vor dem II. Vatikanischen Konzil noch – kam er mit Rom in Konflikt. Als der Vatikan begann, auch einheimische, also Priester schwarzer Hautfarbe, zu Bischöfen zu ernennen, legte Lefebvre aus Protest sein Amt nieder. Einen Nichteuropäer als Oberhaupt eines Bistums empfand er als Skandal. Das war Anfang der 60iger Jahre.

Machen wir einen Sprung von 25 Jahren: In seinem Buch „Ils l’ ont decouronne“ – zu deutsch: „Sie haben ihn entthront“ – da schrieb Lefebvre wörtlich an die Adresse seiner Leser:
„Sollte Sie je die Lust packen, das Beten von Muslimen auf der Straße zu verhindern oder gar ihren Kult in der Moschee zu stören, so würden Sie sich eventuell gegen die Liebe und gewiss gegen die Klugheit verfehlen, aber Sie begingen gegenüber (Islam)Gläubigen keinerlei Unrecht.“
Begründung: Ein Recht auf Gottesverehrung werde nicht verletzt, denn Allah, den die Muslime verehren, sei nicht der wahre Gott. – Wer so denkt, dem können die Prinzipien der Gewissens- und Religionsfreiheit, wie sie das II. Vat. Konzil anerkannt hat, nur ein Gräuel sein, und die Leitbilder von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eine Erfindung des Teufels. Was Wunder daher, dass sich Lefebvres Anhänger nicht selten als Horde antidemokratischer Krakeler aufführen. Wer je das zweifelhafte Vergnügen hatte, mit ihnen diskutieren zu müssen, kann ein Lied davon singen. Um es auf eine zwar spitzzüngige, aber durchaus angemessene Formel zu bringen: Lefebvre war ein Chomeini in Taschenformat und ein Gutteil seiner Nachfolger ist nicht besser. Gleichwohl aber machte Lefebvre ungeniert Gebrauch von genau den Freiheiten, die er mit Feuer und Schwefel bekämpfte. In dem von ihm so heiß geliebten vormodernen Zeitalter wäre er schlicht auf dem Scheiterhaufen gelandet. So teuflisch kann die Gewissensfreiheit also wohl doch nicht sein.

Dem militanten Gebaren nach außen entspricht nach innen ein absolut starres Verständnis von Überlieferung und Treue zur Vergangenheit, das sich die Traditionalisten zurechtlegen. Von allen Anfang an war sich die Kirche bewusst, dass sie ihrem eigenen Ursprung nur dadurch treu bleiben und das Vermächtnis des Herrn lebendig halten kann, dass sie das ihr Anvertraute in jeder Epoche unter den Bedingungen der geschichtlichen Situation neu aneignet und für die Menschen in die jeweilige Kultur übersetzt. Und das geht eben nur durch Veränderung und Erneuerung. Zwei Beispiele: In den ersten drei Jahrhunderten etwa konnte ein Christ nur ein einziges Mal in seinem ganzen Leben das Bußsakrament empfangen als eine Tauferneuerung unter strengen Bedingungen. Das kam daher, dass das Bußsakrament nur im Fall schwerster Vergehen gegen Glaube und Liebe für nötig erachtet wurde. Die Entwicklung zur Volkskirche mit vielen Gläubigen erforderte größere Rücksichtnahme auf die so genannten Schwachen, legte also einen mehrfachen Empfang des Bußsakraments nahe. So entstand nach langer Zeit sogar die häufige Andachtsbeichte, die viele von Ihnen noch kennen. Unter heutigen Bedingungen dagegen ist klar, dass ein vorsichtigerer Umgang mit der Beichthäufigkeit diesem Sakrament nur zuträglich ist.

Ein zweites Beispiel: Die ersten Jahre nach Ostern hat die Gemeinde ihre Gottesdienste im aramäischen Dialekt gefeiert; unser Halleluja und Amen zeugen noch heute davon. Etwas später wurde das Griechische die Gottesdienst-Sprache, weil die Mehrheit der Christen ehemalige griechisch-sprechende Heiden waren. Und wieder einige Generationen später trat an die Stelle des Griechischen die lateinische Sprache, weil nur so eine Ausbreitung des Glaubens im Römerreich möglich war. Logisch, dass dann auch die vielen Muttersprachen in der Liturgie an erster Stelle treten müssen, wenn die Kirche endgültig ihre Sendung als weltweit und nicht mehr bloß eurozentrisch begreift, wie das seit dem II. Vatikanischen Konzil endgültig der Fall ist. Warum also sollte einzig die lateinische Messe gültig sein, wie die Lefebvrianer behaupten? Versteht denn unser Gott nur lateinische Gebete?

Worum immer in der Glaubens- und Frömmigkeitspraxis es gehen mag, die Traditionalisten tun so, als seien mit dem Konzil von Trient 1545-1563 alle überhaupt denkbaren Fragen geklärt und als sei die Kirchengeschichte spätestens mit den Piuspäpsten, also mit der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Stillstand gekommen. Überraschen freilich kann das nicht, wenn man beachtet, dass es gerade in dieser Epoche etwa zwischen 1870 und 1950 zu einer beispiellosen Selbsteinkapselung und einer Bankrotterklärung der Kirche gegenüber den Fragen der modernen Welt gekommen war. Bezeichnend aber ist – und damit komme ich wieder an den Ausgangspunkt zurück –, dass sich Lefebvre, wenn es darauf ankommt, nicht einmal selbst an das starre Verständnis von Treue zur Überlieferung hält, das er anderen abverlangt – dass alles genauso wie immer schon sein müsse. Der schlagende Beweis: der Ritus, in dem Lefebvre am 30. Juni 1988 in Econe vier Bischöfe weihte. Seit Jahrhunderten beginnt jede Bischofsweihe mit einer Frage an die Kandidaten, welche heißt: Habetis mandatum apostolicum? Habt ihr die päpstliche Vollmacht? Darauf müssen die Kandidaten die päpstliche Ernennungsurkunde verlesen lassen. Die vier in Econe hatte diese natürlich nicht. Darum veränderte Lefebvre kurzerhand den alten liturgischen Text und sprach überall dort, wo der Papst erwähnt wird, von „Kirche“ oder „Vorsehung“. Das Ganze wurde lateinisch vorgetragen, damit möglichst wenige etwas verstehen und auf den Gedanken kommen, sich Fragen zu stellen. Könnte augenfällig anschaulich werden, dass es tatsächlich in erster Linie nicht um Glauben, nicht um Liturgie, nicht einmal um Theologie geht, sondern um die Verteidigung einer überkommenen Weltanschauung, die der Kirche viel Macht über Menschen und den Klerikern herrscherliches Gebaren und triumphalistische Faxen gestattete? Was Wunder, dass in der so komplizierten Welt von heute manch armer Tropf, der nur ein schwaches Rückgrat besitzt, in einer solchen Nische Unterschlupf sucht, um sich auch einmal sicher und mächtig zu fühlen!

Die Tragik der Betroffenen verlangt von uns, dass wir – anstelle über sie zu urteilen – für sie beten. Beten, dass sie der Kraft des Evangeliums, der Kraft des gekreuzigten Jesus Christus mehr trauen lernen als den Angeboten von ein paar Fanatikern, die aus ihrer eigenen Verunsicherung heraus die Fragen von heute mit Antworten von gestern erledigen möchten. Und damit betreiben die Traditionalisten genau das, was sie so gern den so genannten modernen, linken Theologen unterstellen: sie verwechseln Glaube und Politik. Und immer geht es in Wirklichkeit nicht um die Wahrheit, sondern um die Macht.

V
Das heutige Evangelium bringt uns genau das Gegenteil nahe: Die Wahrheit ist das Wesentliche – und die christliche Wahrheit kommt aus der Demut des Dienens, ihr Erkennungszeichen ist das Kreuz. Das Schisma der Pius-Brüder ist kein Theologengezänk, sondern entstammt der Frage, ob die Kirche der Verheißung des Evangeliums traut. Fundamentalismus nach außen ist immer ein untrüglicher Indikator für Unsicherheit nach innen. Nur wer vom Eigenen zuinnerst überzeugt ist, wird den Mut und die Gelassenheit haben, auch Anderem und Fremden frei zu begegnen. Dass ihnen genau das fehlt, das macht die Pius-Brüder auch so anfällig für theologische Feindbilder bis hin zum Antijudaismus.

Ob der tollkühne Versuch von Papst Benedikt gelingt, dieses Schisma der Ängstlichen und Verunsicherten gleichsam von innen durch eine Geste bis über die Schmerzgrenze hinausgehenden Großmuts und einer den common sense nicht mehr achtenden Zuvorkommenheit aufzubrechen, wird sich erweisen müssen. Bislang zeigen die Pius-Brüder wenig Neigung, diesem Akt angemessen zu antworten. Im Grunde handelt es sich um ein Experiment, wie es in der Kirchengeschichte bislang noch nicht vorgekommen ist.

Aus meinen Vorlesungen beim Regensburger Dogmatiker Joseph Ratzinger weiß ich noch, wie sich durch seine Überlegungen wie ein roter Faden das Widerspiel von Macht und Liebe zog – und dass nur die eine, die Liebe, den Menschen menschlich werden und Gott Gott sein lässt. Manchmal denke ich: Jetzt hat er im Angesicht der ihm bleibenden befristeten Zeit schier alles auf diese Karte gesetzt, um das jüngste Schisma zu heilen. Wenn das wirklich gelänge und damit das politisch-theologische Sumpfbiotop der Reaktionäre ausgetrocknet würde, dann wäre wohl irgendwann auch vergeben und vergessen, unter welch missverständlichen Begleitumständen das ganze Unternehmen in den letzten Wochen in Gang gebracht wurde.