Was beim Nichtstun geschieht

16. So B: Mk 6,34-40

I
Vor gar nicht so langer Zeit hieß die am heißesten ersehnte Zeit des Jahres für viele „Weihnachten“. Schon längst hat diesen Tagen etwas ganz anderes den Rang abgelaufen: der jährliche Urlaub. Ein regelrechter Kult hat sich darum entfaltet – so sehr, dass der Urlaub für ganz viele durch die Art, wie sie ihn verbringen, schlichtweg ins Gegenteil dessen ausschlägt, was sie eigentlich suchen. Dabei ist es für uns Menschen so ungeheuer wichtig, immer wieder einmal Abstand zu gewinnen von Arbeit, Pflicht und Alltag, weil wir uns sonst selbst verlieren.

Schon in dieser Zeit, der das Wort „Stress“ noch gänzlich fremd war, im 4. Jahrhundert vor Christus, hat der taoistische Weise Liä Dsi als alte Weisheit folgenden Spruch des Yang Dschu überliefert: Vier Gründe gibt es, dass die lebenden Menschen nicht zur Ruhe kommen: der erste ist das lange Leben, der zweite ist der Ruhm, der dritte sind Rang und Stand, der vierte ist der Besitz. Um dieser vier Dinge willen fürchten sie die Geister, fürchten sie die Menschen, fürchten sie die Macht, fürchten sie die Strafe. Die das tun, sind Menschen, die nicht zur Besinnung kommen… ihr Schicksal wird von außen bestimmt. – Wer aber seinem Los nicht widersteht, was braucht der hohes Alter zu begehren? Wer sich nicht um Andere kümmert, was braucht der Ruhm zu begehren? Wer nicht nach Macht trachtet, was braucht der Stand und Rang zu begehren? Wer nicht nach Reichtum gierig ist, was braucht der Besitz zu begehren? Die solches tun, sind mit sich selbst im Reinen. Auf der ganzen Welt finden sie keinen Gegner; ihr Schicksal wird von innen her bestimmt. Darum ein Sprichwort:
Die Leute ohne Ehr und Amt
Sind nur zur halben Last verdammt,
Und schafft man Speis’ und Kleidung ab,
Gräbt man der Staatsgewalt ihr Grab.


II
Wer ganz und gar von außen gesteuert lebt – von den Erwartungen anderer, von der Anerkennung, die er sich verdient, von der Leistung, die er erbringt, – der kann nicht anders, als gehetzt zu sein, voller Furcht, und seine Lebtag’ als Plage empfinden. Denn anders zu leben – nicht von außen, sondern von innen gelenkt, von dem, was das Eigene ist, bestimmt sein und darum bei sich zuhause sein kann nur, wer sich immer wieder den äußeren Dingen entzieht, wer Einkehr hält und sich besinnt auf sich. Kurz: wer zu sich selbst kommt und sich so zurückbindet an den Grund seiner selbst – was für den Gläubigen immer auch heißt: an Gott. Zu diesem Unterbrechen der äußeren Umstände und der von ihnen verlangten Geschäftigkeit gehört – ja: tatsächlich – Mut. Mut zum Selbstsein.

III
Es ist ein wunderschönes Inbild der Menschlichkeit des Evangeliums, dass Jesus seinen Jüngern, die er selbst ausgesandt hatte, regelrecht befiehlt, die Verkündigungsarbeit zu unterbrechen und auszuruhen: Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir für uns sind – abseits der vielen Leute, die etwas möchten von ihnen. Wenn die Rede da auf einem „einsamen Ort“ kommt, fällt jedem, dem die biblische Sprache auch nur ein wenig vertraut ist, etwas ein, was für Altes wie Neues Testament ungeheuer wichtig ist: die Wüste. Wüste ist für die Gläubigen der Bibel immer Ort des Fragens, des Suchens, des Neubeginns, Ort, da man sich klar wird über das Wesentliche. Denken Sie nur an das Volk Israels in der Wüste auf dem Weg aus Ägypten ins gelobte Land hinüber! Oder denken Sie an Jesus selbst nach seiner Taufe, wie er sich durch die Versuchungen hindurch über seine Berufung klar wird! Jeder Mensch braucht hie und da wenigstens so etwas wie Wüstentage – Zeiten, da er den Alltag verlässt mit seinen Gewohnheiten und seiner vertrauten Atmosphäre. Zeiten, die ihn nicht ablenken von sich, Zeiten, da er gar nicht anders kann als so zu sein, wie er wirklich ist, Zeiten, da alles viel einfacher, viel unverstellter geht als sonst. Nur aus solchem Bei-uns-selber-Sein gewinnen wir die Kraft, dass wir die gerechten Forderungen, die von außen kommen, als unsere Pflicht, ja sogar als unsere Berufung anerkennen – und erfüllen. Gerade so wie Jesus selbst heute im Evangelium: Obwohl er offenkundig nur während der kurzen Bootsfahrt mit den Jüngern allein sein konnte, weil die vielen Menschen ihnen schon zuvorgekommen waren und sie erwarteten, weist er sie nicht ab und speist er sie kurzgebunden ab, sondern: Er lehrte sie lange. Aus seinem Mitgefühl, seinem Mitleid heraus, weil sie so sehr nach Weisung für das rechte Leben suchen. Er lehrte sie lange – will sagen: er hatte Zeit und Geduld für sie. Das kann nur der, der ganz in sich steht, gestärkt von der Einkehr bei sich in den Augenblicken am einsamen Ort, die immer auch Augenblicke der Einkehr bei Gott sind. Nur aus dem rechten Zusammenspiel buchstäblich von Tun und Lassen vermögen wir selbst zu sein und gleichzeitig so feinfühlig zu bleiben, dass wir im Menschlichen nicht vorbeirennen an denen, die fragend und suchend auf uns schauen.

IV
Übrigens: ziemlich verkehrt wäre zu glauben, nur ein großer Urlaub könnte dazu verhelfen. Eher geschieht – wie die Dinge nun einmal sind – jenes Wesentliche in den kleinen Momenten und Viertelstunden während des Tages, die wir so oft ungenutzt verstreichen lassen oder mit leerem Gerede oder einfach mit Krach aus dem Radio und dem Fernseher zuschütten. Stattdessen einfach zu sich zu kommen, bei sich bleiben, da sein; manchmal auch fragen: Wer bin ich? Was will ich? Was tröstet mich? Wo suche, wo finde ich Halt und Ruhe, die ich so sehr brauche? So fängt Selbst-sein an. Selbst-sein ist immer Frei-sein. Übersehen wir die Anfänge dazu nicht, die es auch in Ihrem, in meinem Leben gibt. Und noch eins: Sie dürfen gewiss sein – wenn Sie einmal ganz einfach nur so da sind und gar nichts tun, dann ist Gott nicht weit. Auch das ist ein Zeichen seiner Sympathie für uns.