Aus-Setzung

6. So B: Mk 1,40-45

I
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen aufwachte, fand er sich im Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch… Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. – Was ist mit mir geschehen?, dachte er. Es war kein Traum.

II
So beginnt Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Aus der Zeit ihrer Abfassung sind Briefe enthalten, in denen der Dichter andeutet, dass er sich in dieser Gruselgeschichte den Ekel vor sich selber von der Seele geschrieben habe.

III
Vielleicht kennen Sie das sogar selbst aus einer dunklen Stunde: Ekel vor sich selber. Da geht immer wieder noch einmal etwas schief. Und immer wieder noch einmal mache ich den gleichen Fehler, obwohl ich mir doch vorgenommen hatte, aufzupassen. Und die anderen lassen mich mehr oder weniger spüren, wie sie mich verachten und was für eine Null, was für ein Versager ich bin. Wem das passiert, der verkriecht sich, verpuppt sich in sich selbst. Die anderen stempeln ihn zum Widerling, zum Ekel; so stoßen sie ihn aus, behandeln ihn wie etwas Ansteckendes, einen Aussätzigen. Und der Betroffene fühlt sich genau so. Heute weiß man, dass diese innere Not der Seele bei gar nicht so wenigen dann regelrecht nach außen durchschlägt und Krankheiten der Haut auslöst, also des Organs, das uns am unmittelbarsten mit der Welt verbindet. Der Aussätzige schämt sich und fühlt sich im verborgenen Winkel seiner Seele bestraft durch seine Krankheit und also schuldig. Und die andern wiederum halten ihn genau dafür. Ein Teufelskreis.

IV
Natürlich hat man in der Zeit der Bibel diese Zusammenhänge nicht so erklärt wie wir heute. Aber empfunden hat man sie genauso. Darum gilt der ganzen Bibel der Aussatz nicht als eine Krankheit unter vielen, sondern als eine besonders schlimme, im Grunde als das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren konnte. Ein Aussätziger war ein bei lebendigem Leibe Toter: Ausgestoßen, abgeschnitten vom Leben, gemieden, verachtet. Ein Gesetz verbot ihnen, Städte zu betreten, und schrieb ihnen vor, durch lautes Rufen oder eine Holzklapper Vorübergehende zu warnen und auf Distanz zu halten.

Erst wenn man sich an das alles erinnert, kann man verstehen, dass das Evangelium von heute eine aufregende Geschichte ist und etwas unglaublich Kühnes von Gott sagt. Das geht damit los, dass der Aussätzige, von dem da erzählt wird, jenes Verbot, sich jemandem zu nähern, bricht. Er nimmt den letzten Mut der Verzweiflung zusammen, geht auf Jesus zu, bittet ihn um Hilfe. Er, vor dem sich die anderen ekeln und der sich vor sich selbst ekelt, mutet sich Jesus zu. Und Jesus geht ihm nicht nur nicht aus dem Weg. Sondern er tut das Verbotenste, das er in dieser Situation tun konnte: Er berührte den Aussätzigen.

Das Evangelium erzählt: Im gleichen Augenblick, da Jesus ihn berührte, verschwand der Aussatz, und der Mann war rein. Dabei geht es in keiner Weise um ein Spektakel, sondern: Berührung war das Einzige, was diesen Menschen durch den Panzer seines Selbstekels hindurch noch erreichen konnte: Der andere widert sich nicht vor mir. Er schenkt mir seine Nähe. Ich bin nicht mehr allein. Ein winziger Augenblick, dies zu spüren, genügt, um den Aussätzigen im Innersten gewiss sein zu lassen: Ich bin kein Dreck und kein Ungeziefer, das es am besten gar nicht gäbe. Ich bin auch etwas wert. Er weiß sich zuinnerst rein und ist es, auch wenn der äußerlich sichtbare Ansatz – wie alles im Leben – seine Zeit gebraucht haben wird, um zu heilen. Soviel zum Ereignis selbst.

V
In der Geschichte steckt aber noch etwas. Das Evangelium nennt ausdrücklich den Grund, warum Jesus dem Aussätzigen die Bitte um Heilung erfüllte: Er hatte Mitleid mit ihm. In uralten Handschriften, die das Evangelium überliefern, steht an dieser ein anderes Wort, von dem man mittlerweile weiß, dass es das ursprünglichere ist. Dort steht: Als der Aussätzige ihn um Heilung bat, wurde Jesus zornig, streckte seine Hand aus und berührte ihn…– ein zorniger Jesus ist uns fremd, aber darin tritt etwas ganz Wichtiges zutage: Dass Jesus den Bittsteller nicht abweist, sondern heilt, zeigt ja, dass der Zorn nicht diesem Menschen und seiner Bitte gilt, sondern dem elenden Zustand, in dem der Aussätzige sich befindet: So soll und darf es einem Menschen nicht gehen. Und niemand darf ihn durch sein Verhalten oder durch Ge- und Verbote in diesen Zustand einsperren. Gott hat den Menschen anders gemeint: Frei, jede und jeder von gleicher Würde, miteinander verbunden. Das, was sich diesem Willen entgegenstellt, nimmt Gott nicht hin. Der Zorn Jesu, also dessen, der gekommen ist, das Reich Gottes – also dass alles wieder stimmt – aufzurichten, – dieser Zorn ist eine Art sichtbares Gleichnis für die Kompromisslosigkeit, mit der sich Gott dem widersetzt, was Menschen quält.

VI
Oliviero Toscani, der legendäre Ex-Photograph von United Colors of Bennetton, der – obwohl nach eigenem Bekenntnis meilenweit entfernt von der Kirche – jahrelang die Werbetafeln jenes Konzerns zu hauswandgroßen Ikonen des Christlichen verwandelte, ist überzeugt, dass genau das den unverbrauchten Glutkern der christlichen Botschaft ausmacht – dieses Nahesein Gottes zum Menschen im Menschen Jesus gerade dort, wo eine und einer ganz unten ist.

Theologen reden in den Predigten und sonst wo immer so schnell von der Liebe, vom Versöhntsein und so. Aber vielleicht geht es darum gar nicht zuerst. Toscani, schnörkellos und schnoddrig, wie er eben ist, sagte es in einem Interview einmal so:
„Als Jesus und seine Agentur 'Die Apostel' die größte Kommunikationskampagne aller Zeiten entwickelten, geschah das eben nicht mit einer respektvollen und glücksverheißenden Bilderwelt. Ganz im Gegenteil! In diesem Clip findet sich einfach alles wieder, was die Werbung verachtet: Ein nackter Mann, der an ein Kreuz genagelt ist [...], Umarmung von Aussätzigen, überall Menschen im Elend, abstoßende Kranke, eine Geburt in einem Viehstall inmitten von Tierscheiße, Stunden beispielloser Qualen, Blut, das unter Hammerschlägen hervorspritzt, der Schmerz einer Mutter an der Seite ihres sterbenden Sohnes. [...]Die Jesus-Geschichte beschönigte weder die Leiden noch die Gewalt in der Welt. Sie machte keine Konzessionen an das Sicherheitsbedürfnis ihres Publikums. Sie lancierte die erste große organisierte Kampagne der Geschichte, und dabei wurde eben nicht auf sofortigen Gewinn abgezielt, und es wurden auch nicht die Qualitäten des Produktes direkt angepriesen: das Reich Gottes [...]. Sie erzählt uns von der Erlösung und der ewigen Glückseligkeit und verheißt uns dies durch einen gekreuzigten Mann im blutigen Lendentuch, nicht durch Claudia Schiffer im Chanel-Höschen. Und diese Kampagne ist seit zwei Jahrtausenden Teil der kollektiven Vorstellungswelt."

Schon oft hat man sich in der Theologie und unter Historikern gefragt, warum sich denn damals der christliche Glaube, dieses Phänomen aus einer randständigen Provinz des Römischen Reiches, so atemberaubend schnell verbreitet und durchgesetzt habe – wo es doch als Religion mit der geheimnisvoll-attraktiven Gnosis und mit dem intellektuell ungleich anspruchsvolleren Neuplatonismus konkurrieren musste. Vielleicht lässt sich eine erste Antwort auf diese Frage mit einem Wort geben: Es war das Fleisch. Für das Christentum ist buchstäblich in der Mitte des Gottesverhältnisses Platz für das, was jedem Menschen am nächsten ist – die eigene Haut –, auch dann noch, wenn sie kein Hit mehr ist: Da darf das Angeschlagene, das Gefährdete, das Verfallende vorkommen, das, was man nicht mehr anschauen mag, weil es nicht schön ist. Der christliche Gott ist nicht nur herrlich – das auch, gewiss. Aber er ist mehr: Vor ihm, besser: in ihm hat auch das Ungestalte Platz. Nicht bloß, weil es auch zum Leben gehört, sondern weil er es ins Medium seiner Selbstmitteilung hinein nimmt: Darin, dass er der geschlagene Gottesknecht ist, vollendet sich Jesu Gleichnishaftigkeit für Gott. Christentum war von Anfang an ein ästhetischer Verstoß. Das Evangelium hat sich immer kraft der "deformitas Christi" als "Sermo humilis" verstanden, als demütige Rede vom Kleinen, weil Gott sich selbst klein gemacht hat in seinem Jesus. Nur so konnte es fähig werden, einer Wahrnehmung des einzelnen, unableitbaren, faktischen Zerstörens und des Schmerzenden Ausdruck zu geben. Schon länger grassiert, nicht zuletzt getragen von den technischen Möglichkeiten der Neuen Medien, eine alle Bereiche übergreifende Ästhetisierung der Lebenswelt, ein Verhübschungstrieb, dem daran gelegen ist, die Widersprüche, die nicht aufgehenden Gleichungen des Lebens, das Älterwerden und Verfallen durch Blendwerk zu kaschieren. Dieser Drang zum schönen Schein, selbst um den Preis der Verlogenheit, macht den antiästhetischen Impuls der christlichen Gottrede zum Kronzeugen auch des Dunklen, des Uneingelösten, des noch Ausständigen und damit des Ganzen der Wirklichkeit.

VII
Das „Ich will es – werde rein“, das Jesus dem Aussätzigen im heutigen Evangelium zuspricht, klingt darum wie ein Echo jenes „Es werde….“, das Gott am Schöpfungsmorgen sprach. Keines dieser Worte verklingt. Jedes gilt für immer. Also auch uns. Und das heißt: Wir dürfen Gott zumuten – mit allem, was es an uns auszusetzen gibt und allem Aussatz, der uns entstellt. Er selber setzt sich dem aus, was böse ist, und er besiegt es. Das Reinwerden fängt damit an, dass wir wie der Aussätzige im Evangelium Nähe suchen. Am nächsten ist uns Gott in Jesus gekommen. In das Bleibende dieser Nähe treten wir jetzt im heiligen Zeichen.