Gabe der Zweisamkeit

27. Sonntag B: Gen 2,18-24 + Mk 10, 2-12

I.

Umstandslos sei es allem Weiteren vorweg eingestanden: Das heutige Evangelium und seine Fortschreibung der Genesis-Lesung bringen einen im Handumdrehen an die Grenze beim Predigen. Selbst dann, wenn man als Predigender gar nicht selbst betroffen ist. Nach gut 22 Jahren in der Seelsorge habe ich zu viele Ehen scheitern sehen, als dass es einfach mit einem Erinnern an Jesu Gebot oder mit einem Mahnen sein Bewenden haben könnte. Es waren zu viele dabei bei diesen Ehen, die besten Gewissens und guten Willens geschlossen waren – und deren Jawort doch nicht zu halten vermochte. Und es waren in den allermeisten Fällen nicht die ungezähmte Lust am Verbotenen oder die Oberflächlichkeit, die sie zerbrechen ließen. Was aber dann?

II.
Diese Frage lässt mich an eine ganz seltsame Episode in dem Roman „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel denken: Da ist ein kleiner Familienzoo mit Kind und Kegel und ein paar Tieren unterwegs auf dem Meer von Indien nach Kanada, um eine neue Heimat zu finden. Das Schiff gerät in einen Sturm, kentert. Nur der sechzehnjährige Sohn kann sich in einem Boot retten, und mit ihm ein paar Tiere: ein Zebra, eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan-Weibchen und Richard Parker, der bengalische Tiger, der seekrank wird. Tage später finden zwei Männer den Jungen, angespült an einer Küste, al-lein. Und er erzählt, wie gekommen war, was kommen musste: Dass die Hyäne das Zebra und den Orang gerissen habe und der Tiger die Hyäne. Und den – die seekranke Wildkatze – habe er durch Füttern mit gefangenen Fischen und durch das Schaukeln des Bootes in Schach gehalten. Das habe ihn vor der tödlichen Lethargie bewahrt, und nach dem Stranden sei der Tiger flugs im Dschungel verschwunden. Die beiden Männer sind sprachlos, können nicht glauben, was sie da zu hören bekommen. Daraufhin erzählt ihnen der Schiffbrüchige eine andere Geschichte: Statt der vier Tiere finden sich vier Menschen in dem Boot, nach und nach bringt einer den andern um – zum selber Überleben. Jetzt nicken die Männer. Das leuchtet ihnen ein. Mehr als die erste Geschichte. Dann sagt der Junge zu Ihnen: Welche Geschichte wahr ist und welche nicht, dafür haben Sie keinen Beweis. Sie müssen mir vertrauen. In beiden geht das Schiff unter, in beiden kommt meine Familie um und in beiden habe ich viel zu leiden. Da das aber jetzt keinen Unterschied macht, dann sagen Sie mir doch, welche von den Geschichten Ihnen besser gefällt. - Die mit den Tieren, sagt nach einigem Zögern der eine von den Männern.

III.
Der Roman lässt offen, was wirklich geschehen war. Weil es darum gar nicht geht. Entscheidend ist, dass es die erste, die bessere Geschichte auch geben kann und die zweite nicht die einzige ist, die sich denken lässt. Im Gegenüber von Geschichte und Gegenge-schichte tut sich ein Spalt auf, durch den das Wunder schimmert. Wo immer es in unserem Menschenleben an die Substanz geht, im Erwachsenwerden, im Leiden, im Sterben, da brauchen wir diesen Schimmer des Wunders, einen kleinen wenigstens, um nicht vor Angst zu vergehen. Diesen Schimmer des Wunders, den brauchen wir auch, ja, auch im Lieben. Denn Liebe ist nicht nur überwältigend manchmal. Sie ist oft auch nicht leicht, bisweilen fühlt sie sich wie harte Arbeit an, und manchmal ist sie bitter und tut sie weh, und manchmal ist sie verwundet und braucht das Heilen. Und wenn es da keine Wundergeschichte gäbe –wir würden verzweifeln an der Liebe. Und von dort, scheint mir, kommen oft die Trennungen.

IV.
Es ist ja kein Zufall, dass die Bibel von Anfang bis Ende so viele Liebesgeschichten erzählt, alle Höhen, alle Abgründe. Und dass gleich am Anfang die biblische Wundergeschichte von der Liebe steht, gleichsam noch eingesäumt vom Morgenglanz der Schöpfung: Wie Gott aus Fürsorge um sein Geschöpf nicht will, dass es allein sei. Weil ihm die Einsamkeit nicht gut tut. Dass es jemanden hat, die oder der ihm leben hilft. Wie Gott gleichsam übt für seine Absicht, indem er die Tiere schafft und sie vom Menschen benennen lässt, Ausdruck der inneren Verbundenheit und des Zueinandergehörens. Wie das aber noch nicht reicht und der Schöpfer darum im Tiefschlaf aus der Seite des Menschen ihm das rechte Gegenüber formt – nicht aus dem Kopf, nicht aus dem Bauch, aus Intellekt und Trieb, sondern aus der Seite auf Herzenshöhe, dort wo sich das Sinnliche und das Fühlen und das Denken zur einenden Mitte verweben. Von dort wird ihm geschenkt, wonach er sich gesehnt und was zuvor so sehr gefehlt. Und dann der Jubel, nicht mehr allein, sondern Auge in Auge mit seinesgleichen, mit dem Traum des Lebens zu sein, der mehr zählt als die eigene Herkunft aus Vaterhaus und Mutterschoß.

V.
Das ist die biblische Geschichte vom Anfang der Liebe. Seit je aber haben Menschen auch um eine andere Geschichte gewusst. Eine Gegengeschichte, die davon erzählt, wie der eine Mensch den an-dern gebraucht, niederdrückt, ihm oder ihr zur Plage, zum heillosen Fluch gar werden kann. Schon im ersten Kapitel nach unserer Lesung ist davon die Rede. Und die Bibel ist überzeugt, dass diese Geschichte dann passiert, passieren muss, wenn der Mensch sich lossagt von seinem Ursprung, wenn er vergisst, sich Gott zu verdanken und selber Herrgott spielt, indem er alles in seiner Verfügung glaubt. Ungeschminkter als viele andere hat Franz Kafka beschrieben, wie der Mensch sich fühlt, wenn er aus dem Zauber des Anfangs gefal-len ist. Mit der Vertreibung aus dem Paradies, so der Dichter, verlor der Mensch seinen Namen – darum tragen Kafkas Romangestalten immer nur Initialen, „K.“ zum Beispiel); er verlor seine Sprache – darum gibt es in Kafkas Büchern nirgends ein Miteinander und Verstehen; und er verlor seine Liebe – nur das Geschlechtliche bleibt ihm, das ihn quält und ihm Angst macht. In seinem Roman „Das Schloß“ hat Kafka das beklemmend auseinander gefaltet. Heute wird von all dem unendlich trivialer geredet: Dass es ganz nett ist, so lange die Chemie stimmt – und das ist dann wörtlich gemeint. Und dass es passt, solange man Spaß hat an einander, aber das das halt eben auch nachlässt und aufhört und man gut beraten ist, etwas, jemanden andern sich zu suchen, wenn die Natur es einem signalisiert, denn ewig tut sie das auch nicht und so fort.

VI.
Kafkas Zeitgenosse Franz Rosenzweig, der große jüdische Denker, war überzeugt, dass der Mensch mit seiner Sehnsucht nach Liebe ins Heillose fällt, wenn er nicht immer wieder den Faden jener andern Geschichte, der vom Zauber der Liebe, aufnimmt und von ihm sich weiterleiten lässt durch die Labyrinthe des Lebens und des Schicksals: den Faden jener Geschichte, die vom Schöpfungsmorgen über das alttestamentliche Hohelied und das Evangelium der Liebe aus der Feder des Apostels Johannes bis zu der geduldigen, gütigen, vergebenden Liebe des Werktags in den Briefen des Paulus und seiner Schüler führt. Denn so bleibt das Wenige, das oft so Unfertige und Gebrochene, das Menschen in eine Beziehung mitbringen, mitbringen können, eingeborgen in eine große Geschichte, deren Anfang seinen Zauber daher hat, dass Gott selbst ihr Dichter ist. Eine Geschichte, zart wie aus Spinnwebfäden und dennoch so fest, dass sie auch einem Sturm widerstehen kann.

VII.
Menschen, die einander in Gottes Namen heiraten, tun das, weil sie ihm, dem großen Poeten des Lebens trauen und darum sich auch einander antrauen. Denn sie können auch ihren eigenen Anfang, so klein und unscheinbar und zufällig er von außen gesehen gewesen sein mag, in den Gottesanfang eingeschrieben wissen. Und umgekehrt, wenn zwei Menschen die Geschichte ihres Anfangs und ihrer Liebe in das große Gottesgedicht von der Liebe einweben, dann fangen – um im Bild zu bleiben – die Webmuster der gemeinsam gelebten Geschichte an, Gleichnis des Wunderbaren zu werden, aus dem alles herkommt, was man – wie auch die Liebe – nicht machen kann. Sakrament nennen katholische Christen darum die Ehe: dass in dem, wie Menschen aus Güte zueinander sind, der Geber des Guten selbst begegnet.

VIII.
Wo das tatsächlich geschieht, bleibt für den Gedanken der Trennung in der Tat kein Platz, weil selbst menschliches Versagen noch von der Liebe getragen sein wird. Da haben doch gleichsam zwei Staubkörner im All ihre Bahnen gekreuzt und daraus ist etwas Wunderbares Wirklichkeit geworden ist, für das es sich lohnt, gesucht, gezittert, manchmal auch gelitten zu haben. Und im Schutz der Gottesgeschichte vermag das, was da entstand, tief zu werden bis da-hin, dass es für die zwei am Schönsten ist, einfach da zu sein beieinander. So miteinander zu leben, bedarf der Geduld und des Vertrauens. Des Vertrauens nicht nur in den, die andere. Sondern Vertrauen mehr noch ins größere Ganze des Daseins. Sonst kann eines Tages die Angst einbrechen, zu kurz zu kommen in diesem Leben mit der einen, dem einen, die man doch schon so gut kennt – und ob denn da nicht noch mehr, vielleicht Hinreißenderes wäre. Und da, wenn dem einer, eine aus freien Stücken nachgäbe trotz seines Wissens um jene Gottesgeschichte, da geschähe Bruch, Ehebruch, der nichts anderes als eine Misstrauenserklärung gegen den Geber aller Liebe wäre. Manchmal frage ich mich, wie oft denn dies wirklich dahinter steht, wenn sich zwei trennen. Mit Sicherheit gibt es das. Aber der Normalfall? Ich denke, man darf das nicht vermischen mit dem, was Men-schen anrichten und sich antun, weil sie irren oder unreif mit dem Leben umgegangen sind. Und ich vertraue die, denen das widerfährt, Gottes Barmherzigkeit an. Dürften wir das nicht wagen, so könnte nicht sein, dass manchmal durch schmerzhafte Trennung hindurch und im bleibenden Bewusstsein dessen, was war, etwas Neues entsteht, dem offenkundig der Segen des Seelenfriedens nicht entzogen ist – Widerschein der Treue Gottes selbst dort noch, wo wir etwas schuldig geblieben sind, was wir hätten sein können. Wo das Evangelium im Blick auf die Liebe als Gebot spricht, erinnert es uns daran, von der Liebe nicht zu klein und zu alltäglich zu denken.