Von der doppelten Umkehr

3. Sonntag B: Jona 3,1-5. 10 + Mk 1,14-20

I.
Eine jüdische Geschichte weiß von einem Rabbi, der am Versöhnungstag zögerte, das Gebet zu beginnen, weil er bemerkte, dass jemand in der Synagoge weinte. Er wandte sich um, fand einen schluchzenden Mann und fragte ihn, was denn geschehen sei. Da erzählte der Mann sein Unglück und begann, Gott anzuklagen: Er habe ihm die Frau sterben lassen, sein Haus sei ihm verbrannt und sein liebstes Gebetbuch mit dazu. Er könne Gott nicht verzeihen, das alles sei zuviel.
Der Rabbi ließ ein Gebetbuch suchen, das dem verbrannten ähnlich sah. Er schenkte es dem Mann und fragte: Verzeihst du IHM jetzt? Nach einer Weile antwortete der Mann leise: Ja, ich verzeihe IHM. – Dann ging der Rabbi zum Pult und sprach das große Versöhnungsgebet.

II.
Ist das nicht seltsam? Das geschenkte Büchlein, lächerlich im Vergleich zu dem Verlust, den der Mann erlitten hat! Und doch tröstet es den Verbitterten ein wenig, öffnet in ihm etwas. Es ist nur ein winziges Zeichen, aber: Jemand hat gesehen und gehört, wie ihm ist. Das genügt zum Umkehren und zum Verzeihen.

III.
Etwas ähnlich Bewegendes – bloß umgekehrt – erzählt uns die heutige Lesung aus dem Jona-Büchlein. Da ist Ninive, die Weltstadt, wo es nichts gibt, was es nicht gäbe. Die Schickeria, die schon überlegen muss, was sie sich noch Ausgefallenes leisten könnte, und die durch alle Netze Gefallenen, die kaum das Brot zum täglichen Überleben finden. Da sind die gerissenen Geldsäcke, die für ein paar Mark die eigene Großmutter verkaufen würden, und das Kleinbürgertum, das sich nach allen Seiten buckelt, um unbehelligt zu bleiben. Postmoderne Gesellschaft nennt man das heute. Mitten in sie hinein wird der Prophet Jona gesandt, um denen, die so leben, anzusagen, dass das nicht gut gehen kann.
Jona geht nach Ninive hinein und ruft: Noch vierzig Tage, und Ninive ist zerstört – ohne dass er Feinde oder eine Naturkatastrophe als Ursache der Zerstörung benennen würde. So als ob er sagen wollte: Nicht mehr lang, und ihr habt euch selbst zugrunde gerichtet. Und genau darin besteht ja immer Gottes Gericht, dass er dem, der wissentlich seine Gebote verwirft, seinen Willen lässt, was dann aber auch einschließt, dass einer die Folgen des mit Gott nicht mehr im Einklang befindlichen Willensentscheids zu tragen hat.
Dieses Gericht kündigt Jona den Niniviten an. Und die Predigt zeigt umgehend Wirkung: Die Leute von Ninive glaubten Gott. Sie riefen ein Fasten aus, und alle, groß und klein, zogen Bußgewänder an ... Da reute Gott das Unheil, das er ihnen angedroht hatte, und er führte die Drohung nicht aus. Im Klartext heißt das: Die Sünder von Ninive setzen ein erstes Zeichen der Umkehr und Reue. Und Gott – Gott! – antwortet darauf, indem ER Umkehr und den schon gefassten Gerichtsbeschluss umwendet und umwandelt in Vergebung und Barmherzigkeit, so dass die Schuldigen von den Folgen ihrer eigenen Verfehlung verschont bleiben.

IV.
Da haben Sie genau das Gleiche wie vorhin in unserer Geschichte, bloß seitenverkehrt eben: Die Menschen hören die Bußpredigt des Jona. Sie nehmen sie sich zu Herzen und ziehen Bußkleider an als erstes, ganz und gar äußerliches Zeichen ihrer Reue und Umkehrbereitschaft. Dieses Zeichen ist soviel wie nichts im Vergleich zu dem, was sie an Schuld auf sich geladen haben. Und doch wird ihnen um dieses Zeichen willen schon geschenkt, was sie eigentlich doch erst nach Abbüßung ihrer Schuld verdient hätten: Vergebung und Verschont bleiben. Genauso wie vorhin für den Mann in der Synagoge das geschenkte kleine Büchlein zum Zeichen der Versöhnung mit dem Leben und dem Gott geworden war. So ist Gott auch. Der Mann in der Geschichte ist sozusagen sein Gleichnis. Nur dadurch, dass uns im Menschlichen manchmal ein kleines Zeichen des guten Willens zum Sinnbild des Ganzen wird, geht es weiter für uns. Und eben so verhält es sich zwischen Gott und uns Menschen: Ein kleines Zeichen der Umkehr schon, wenn es denn von Herzen kommt, nimmt er für das Ganze. Von dieser Großherzigkeit leben wir ganz und gar.

V.
Bezeichnenderweise begegnet uns diese Großherzigkeit Gottes wieder bereits in den ersten zwei Sätzen, mit denen Jesus sein öffentliches Auftreten beginnt: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! Zwei Sätze wie aus Erz gegossen! Und gefüllt mit einer Verheißung, die sich schlichtweg nicht mehr überbieten lässt. Denn nur drei Verse vor diesem Wort vom unmittelbar nahen Gottesreich hat der Evangelist Markus sozusagen die theologische Visitenkarte dessen abgegeben, der dieses Reich bringt. Denn er beschloss seine kurze Erzählung von der Taufe Jesu mit dem vom Himmel erklingenden Satz: Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe. Damit intoniert er nämlich alle drei Teile der jüdischen Bibel, die ja auch Jesu Heiliges Buch ist: Die Tora klingt an mit dem „geliebten Sohn“, denn als erster wird in der Bibel Isaak so genannt; die Prophetenbücher werden erinnert mit dem Stichwort des himmlischen Wohlgefallens, das dem Gottesknecht geschenkt ist; und das Buch der Psalmen kommt ins Spiel, wo gleich am Anfang die Königserwählung des Messias ausgerufen wird mit dem Vers: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt. Mit all dem zusammen an dieser Stelle will Markus sagen: Der da nun kommt als der Bote des Reiches, der trägt all das in sich, wofür die ganze Schrift steht und wovon sie redet. „Reich Gottes“ ist die Kurzformel dafür.
Dieses Reich ist dort, wo die Welt wieder so wird, wie Gott sie eigentlich gemeint hat: Alles und jedes an dem Platz, der ihm zugedacht ist – gerade so, wie es die ersten Zeilen der Bibel in der Schöpfungsgeschichte beschreiben: der Mensch, Seite an Seite mit einem geliebten Du, das ihn bezaubert und nicht weniger leben hilft, mitten in einem Gottesgarten, den er genießen darf und hüten soll; in allem sich getragen wissend von einem Gott, der ihm Leben gönnt und dem er trauen darf, dass er es gut mit ihm meint, obwohl er – der Mensch – so zerbrechlich ist. Da, wo alles – das Oben und Unten, das Ewige und das Vergängliche – so zusammenklingt in einer Harmonie aus Güte und Vertrauen, wo nichts zerrissen, nichts mehr verdreht, pervertiert ist zwischen Gott und Mensch, zwischen uns und unsresgleichen und zwischen uns und den anderen Geschöpfen nicht mehr –, das ist Reich Gottes.
Wer auch nur halbwegs ehrlich die Welt anschaut wie sie ist, und auch sich selbst, wird freilich dagegen halten, was ein Tag nach dem andern an Erfahrung bringt: Menschen misstrauen Gott, dass er ihnen gut sein will, und spielen sich darum selber als Götter auf, übereinander herrschen, gegeneinander stehen sie, und die Erde wird verwüstet dabei. Was aber dann tun? Einfach abfinden mit allem wie´s halt ist, gar selber mitmischen, solange etwas herausspringt dabei? Oder unauslöschlich in der Seele wach halten, was anders sein soll, anders sein kann? Was ist richtig?

VI.
Jesu gute Nachricht spricht genau das Wort, das diesen Zweifel lösen kann: Das Reich Gottes ist nahe gekommen. Was Gott am Anfang schon gewollt hat, das wird sich darum durchsetzen. Und wie? Eigentlich einfach: Kehrt um! Verlasst die ausgetretenen Trampelpfade des Misstrauens, die immer nur in der Eigensucht, also der Sünde enden! Und wie geht Umkehren? Wieder einfach: Glaubt dem Evangelium, traut dieser Nachricht, die ich euch von Gott zu bringen habe, sagt Jesus. Und wie geht das, dem Evangelium trauen? Noch einmal einfach: Genau das tun, was die ersten Jünger getan haben – Jesus nachfolgen. So wie sie von nichts mehr sich zurückhalten lassen: Mit ihm sein. Von ihm lernen – denn das bedeutet: Jünger sein –, von ihm lernen, wie leben geht: aus Vertrauen in Gottes Güte gütig sein können miteinander, und auch – nicht vergessen! – mit sich selbst. Leben, wie er gelebt hat, sagt Johannes in einem seiner Briefe dafür. Das ist das Geheimnis des Gottesreiches.

VII.
Das Wunderbarste daran aber: Noch bevor wir zur Umkehr gerufen werden, wird uns gesagt: Gott hat schon alles bereitgemacht, dass es wieder stimmt zwischen uns und ihm. Das Anfangen bloß mit dem Umkehren reicht schon, und das Fest der Versöhnung beginnt. Man spürt förmlich, wie hauchdünn das ist, was uns Sünder von Gott trennt. Nicht, weil die Schuld so geringfügig wäre – im Gegenteil. Sie reißt zwischen ihm und uns Gräben auf, die klaftertief sind. Aber er, Gott selbst, hat nicht gezögert, selbst in diese Abgründe hinabzusteigen, um ganz nah zu sein, wenn uns auch nur ein einziges Wort der Sehnsucht oder der Reue über die Lippen kommt. Um uns dessen zu vergewissern, hat er uns den Jona gesandt. Und um es gleichsam mit dem eigenen Herzblut zu besiegeln, dazu ist Jesus gekommen.