Zum Leben umgesprochen

13. Sonntag B: Mk 5,21-43

I.
Eine alte arabische Sage erzählt von einem Scheich, den man den „Großen“ nannte. Eines Tages stand ein junger Mann in seinem Zelt und grüßte ihn. Wer bist du? fragte der Scheich. Ich bin Allahs Bote und werde Engel des Todes genannt. Der Scheich wurde bleich vor Schrecken. Was willst du von mir? Ich soll dir sagen, dass dein letzter Tag gekommen ist. Mach dich bereit. Wenn morgen Abend die Sonne untergeht, komme ich, um dich zu holen. Der Bote ging. Das Zelt war leer. Der Scheich überlegte einen Augenblick, dann klatschte er in die Hände und befahl einem Diener, das schnellste und beste Kamel zu satteln. Er lächelte, wenn er an den Boten dachte, der morgen Abend das Zelt leer finden würde.
Bald war der Scheich weit draußen in der Wüste. Er ritt die ganze Nacht und den ganzen Tag trotz der brennenden Sonne. Er gönnte sich keine Ruhe. Je weiter er kam, desto leichter wurde ihm ums Herz. Die Sonne war nicht mehr weit vom Rand der Wüste entfernt. Er sah die Oase, zu der er wollte. Als die Sonne unterging, erreichte er die ersten Palmen. Jetzt war er weit, weit weg von seinem Zelt. Müde stieg er ab, lächelte und streichelte den Hals seines Kamels. Gut gemacht, mein Freund. Er führte das müde Tier zum Brunnen. Am Brunnen saß ruhig der Bote, der sich Engel des Todes genannt hatte, und sagte: Gut, dass du da bist. Ich habe mich gewundert, dass ich dich hier, so weit entfernt von deinem Zelt abholen sollte. Ich habe mit Sorge an den weiten Weg und an die brennende Sonne und an dein hohes Alter gedacht. Du musst sehr schnell geritten sein...

II.
Besorgt, ja behutsam lässt das Märchen den Todesengel auftreten – gerade wie wenn er die Bitterkeit seiner eigenen Botschaft ein wenig abmildern wollte. Denn was hat er anderes zu sagen, als dass weder Größe noch Leistung noch List etwas nützen gegen das Sterben! Mit ihm kommt das Ende für jeden und jedes – unerbittlich und unausweichlich. Nicht nur das unbekannte Danach freilich beunruhigt die Menschen seit jeher. Etwas anderes tut dies im Grunde viel mehr: Wenn nämlich das Sterben das Sicherste ist, was sich von uns Menschen sagen lässt, was ist es dann um die grenzenlos tiefe Sehnsucht nach Leben, die einen jeden alle Tage seines Daseins beseelt, sein und ihr Tun und Treiben bestimmt? Selbst wenn wir diese Sehnsucht durch Leid und Krankheit gefährdet und gebrochen erfahren – aufgeben tut sie keiner. Wird gerade sie aber nicht von der Gewissheit unseres Todes als Traumgespinst entlarvt, weil uns der Tod unfehlbar erwartet, ganz gleich, welche Wege wir beschreiten – wie der Scheich? Ist sie einfach ein Trick der vernunftlosen Natur, der uns möglichst lange bei der Stange halten soll? Oder ein Schutz, der das Zusammenleben mit anderen erleichtert? Oder aber einfach ein erbärmlicher Selbstbetrug, der uns bestenfalls hilft, dem absurden Eiertanz des grauen Alltags noch ein bisschen selbsterdachten Sinn anzudichten?

III.
Auf diese schonungslosen Fragen spitzt sich unsere ganze menschliche Lebenserfahrung letztendlich zu, die sich zwischen der Lust am Leben einerseits und dem Dementi des Lebens durch Leid und Tod andererseits verspannt findet. Wie aber umgehen mit diesem erdrückenden Fragezeichen? Das heutige Evangelium wendet sich genau dieser Not zu – freilich auf die ihm eigene Weise. Markus will uns ja mit seinem Evangelium wenigstens das Allerwichtigste von Jesus mitteilen. Und erstaunlicherweise überliefert er kaum Lehren und Weisungen. Stattdessen erzählt er Geschichten von Heilungen, die Jesus gewirkt hat – eine nach der anderen: von Besessenen, Lahmen, Aussätzigen, Kranken, die auf Jesu Wort hin wieder gesund werden. Und alle diese Geschichten kreisen nicht um irgendwelche Sensationen, sondern reden von den Urnöten des Lebens – und: dass Jesus diese Nöte heilt. Eben darum geht es auch im heutigen Evangelium mit seiner Geschichte von der blutflüssigen Frau und der von der Tochter des Jairus. Und weil der Tod letztlich so etwas wie der Knoten ist, indem alle Linien von Elend und Leid zusammenlaufen, wird das, was das heutige Evangelium zu sagen weiß, eine Art erster Höhepunkt des Markus-Evangeliums.
Jairus kommt, so hören wir, zu Jesus. Er weiß sich nicht mehr zu helfen. Seine kleine Tochter stirbt ihm unter den Händen weg. Er, der Vorsteher, die geistliche Autorität wirft sich nieder vor Jesus. Manches hat er schon gehört, und so klammert er sich in seiner Verzweiflung an ihn. Und Jesus geht mit. Er geht dem Elend, der Sinnlosigkeit, die Leid und Tod in Menschenaugen ereignet, nicht aus dem Weg. Er stiehlt sich nicht peinlich berührt davon, wenn einer klagt. Er geht stattdessen geradewegs zu auf die Not im Haus des Jairus.
Unterwegs kommt es zu der Begegnung mit der blutflüssigen Frau. Markus schiebt diese Geschichte hier ein, um drastisch herauszustellen, was allein schon das Mitgehen Jesu mit Jairus bedeutet: dass er nämlich nicht auf Distanz achtet. Mitten im Gedränge ist sein Platz – im Gedränge, in dem sich nichts anderes spiegelt als die Bedrängnis der Menschen. Er hat keine Berührungsangst, auch nicht vor dem, was – wie die Blutflüssige – einen Menschen isoliert, weil andere sich davor ekeln. Und unüberhörbar schwingt dabei zwischen den Zeilen mit, um was allein es Markus mit diesen Geschichten zu tun ist: nämlich uns zu sagen: So wie er, so wie dieser Jesus, genauso ist Gott. So nah; er lässt sich berühren von eurer Not und dem Elend. Er nimmt sich uns zu Herzen – wenn Menschen diese Nähe Gottes für möglich halten und auf sie setzen. Denn das Geschick der blutflüssigen Frau zeigt: Nichts anders als allein schon der Mut, mit seiner drückenden Last auf den Herrn zuzugehen, dieser Mut beginnt die Wende einzuleiten – selbst dann noch, wenn er aus schierer Verzweiflung geboren ist wie bei der Frau. Wir nennen diesen Mut mit einem anderen Wort: Glauben. Er heilt. Deshalb trägt Jesus auch keinen Augenblick die Züge eines Wundertäters, sondern die Züge dessen, der zum Glauben befreit, ja geradezu hinreißt. Zum Glauben, der auf ihn gerichtet doch einzig den Vater im Himmel meint: Dein Glaube hat dir geholfen – geh hin in Frieden. Wo ein Mensch glaubt, also Gott den gebührenden Platz einräumt in seinem Lebenshaus, wendet sich sein Dasein ins Ganzwerden, werden seine Ränder gleichsam vom Morgenrot dessen gesäumt, was Jesus das Gottesreich nennt.

IV.
Was aber ist es mit der Nähe Gottes dort, wo es nichts mehr zu heilen gibt, weil der Tod ein Leben schon durchgestrichen hat? Ist vor ihm – dem großen Vernichter – das ganze Heilwerden nicht doch bloß ein Aufschub, eine Vertagung jener Stunde, die endgültig den ganzen Trug der Lebenssehnsucht aufdeckt? Noch während Jesus mit der geheilten Frau redet, kommen Boten aus dem Haus des Jairus, um den Tod des Mädchens zu melden – gerade so als wollten sie kundtun, dass selbst so einer wie Jesus nichts ausrichten kann gegen das Schicksal. Jairus wird in sich zusammengefallen sein bei dieser Nachricht. Doch Jesus überhört sie geradezu. Und zu Jairus sagt er: Fürchte dich nicht, glaube nur! Bleib bei dem, was du mit deiner Bitte an mich begonnen hast. Lass nicht die Angst eindringen in dein Herz. Und dann geht er hin und setzt dem Lamento der Klageweiber, die mit ihrem Jammern nur das Machtwort des Todes bestätigen – diesem Machtwort setzt er sein Wort entgegen. Ein Wort, über das Anwesende nur lachen können: Das Kind ist nicht gestorben – es schläft nur. Ohnmächtig scheint dieses Wort. Und doch sagt er mit ihm aus, was das Totsein eines Menschen, dieser für uns so bittere Abbruch eines Lebens – was das in den Augen Gottes bedeutet: soviel wie Schlafen. Du brauchst den Tod deines Töchterchens – und überhaupt keinen Tod zu fürchten, Jairus, denn er hat vor Gott nicht nur nicht das letzte Wort. Für Gott gibt es ihn überhaupt nicht, weil nicht vergehen kann, was je in seine Hand geschrieben, weil von ihm gewollt war. Und weil Jesus vollmächtig im Namen dieses Gottes redet und handelt, weil Gott selbst in ihm gekommen ist – der, für den es keinen Tod gibt –, deshalb ist die lebendig, die gestorben war – lebendig auf seinen Ruf hin, ist sie gleichsam in sein Wort hinein auferweckt. Sie hat damit kein ewiges Leben auf Erden gewonnen. Auch sie wird einmal sterben wie jede andere auch. Aber anders als viele andere: ohne Todesfurcht, weil sie weiß, dass Sterben nicht Absturz ins Nichts, sondern Erwachen zu neuer Gemeinschaft mit Gott bedeutet. Damit, dass der Herr das Mädchen bei der Hand fasst und zu ihr sagt: talita kum – steh auf –, damit bejaht er unsere Sehnsucht nach Leben als etwas, das recht hat und nicht ziellos ist, weil ihm von Gott her Recht gegeben ist. Sich von Jesus an der Hand nehmen und eben dazu führen lassen, das meint Glaube. Er steht im Mittelpunkt des Evangeliums. Mit den beiden Wundergeschichten gibt es uns dazu bedeutsam anschauliche Vorzeichen dessen, was solchem Glauben geschenkt wird.

V.
Gott hält sich nicht distanziert jenseits von Leid und Tod. Er lässt sich vom Glauben hineinziehen in diese unsere Wirklichkeit, wo gelitten und gestorben wird. Er lässt uns nicht allein damit. Und deshalb begegnet uns beides von Gott her in einem radikal anderen Licht. Leid und Tod werden für den, der glaubt, regelrecht umdefiniert dadurch, dass er auch noch in den dunkelsten Stunden seines Lebens annehmen darf, dass Gott bei ihm ist. Das ist die Antwort des Evangeliums auf jene lastende Frage nach Leid und Tod, die ausgesprochen oder unausgesprochen auf jedem von uns liegt. Sie schafft beides nicht ab – weil zumindest das Sterben natürlicherweise zu unserem Leben gehört. Aber: Diese Antwort ermutigt und ermächtigt, grundsätzlich anders umzugehen mit beidem. Wir können das Sterben und auch das Leiden annehmen in der Gewissheit, dass nicht einmal dies uns fortreißt aus der Hand Gottes. Für den, der glaubt, verliert eben dadurch das Leid den Zug des unerbittlichen Verhängnisses, vor dem auch die ausgeklügelste Flucht nicht bewahrt – wie in der Geschichte vom Scheich. Wo der Glaube uns von der Angst vor beidem erlöst, dort werden – freilich verborgen vor jedem neugierigen, spekulierendem Zugriff – Leid und Tod selbst noch einmal, ja, so etwas wie gültige Gestalten von Leben. Manchmal so sehr, dass ein Leiden in der Atmosphäre gläubiger Annahme wie von selber zu heilen beginnt. Und dass Menschen am offenen Grab ihrer Lieben ein Halleluja über die Lippen kommt. Nichts davon lässt sich erzwingen. Nichts ist so sehr den Augen anderer entzogen und in die Einsamkeit eines Herzens vor seinem Gott verfügt wie der erlöste Umgang mit dem eigenen Leiden und dem eigenen Sterben. Der lässt sich nur erbeten. Und dann erfahren. Und vielleicht erzählen. So wäre ein Leben zum Bilderbuch des Evangeliums geworden.