Sternstunde

Fest der Verklärung des Herrn B: Mk 9, 2-10

I.
Manchmal gibt es Momente, die man nie mehr vergisst. Es muss nicht einmal eine Begegnung oder ein Ereignis sein, die alles Bisherige auf den Kopf stellen. Die gibt es zwar auch: Wenn jemand wirklich die Frau oder den Mann fürs Leben findet, oder wenn man merkt, dass man um Haaresbreite einer tödlichen Gefahr entgangen ist. Aber unvergesslich sind auch andere, viel stillere Momente.

II.
Ich weiß es noch gut. Vor etlichen Jahren hatte ich meine Arbeit als Kaplan beendet, um in die Wissenschaft zurückzukehren. Ein ziemlich waghalsiges Projekt. Man lässt alles, was bisher selbstverständlich war, hinter sich, gräbt sich in ein Problem ein – und hofft, nach gut vier, fünf Jahren harter Arbeit zu einem Ergebnis zu kommen, das die kritischen Gutachter und Kollegen überzeugt. Ich war gerade ein paar Monate daran: Uferlos die Masse der Bücher, die zu lesen, der Wenn und Aber, die zu berücksichtigen waren. Ich fuhr spät abends von der Bibliothek heim. Der Kopf schwirrte mir nach stundenlangem Lesen und Grübeln. Wie anfangen mit dem Ganzen? An einer Ampel an diesem nebligen Novemberabend musste ich halten. In diesem Augenblick geschah etwas Eigenartiges. Buchstäblich auf einen Schlag wusste ich, in welcher Reihenfolge ich vorgehen, wie ich anfangen und wohin ich gelangen würde. Fünf Jahre und 1000 Seiten später stellte sich heraus: So war es tatsächlich richtig gewesen.

III.
Ich erzähle das, um auszudrücken: Es gibt Momente größter Wichtigkeit für jemanden, und niemand anderer ringsum merkt etwas davon. Vielleicht muss man „Sternstunden“ sagen dafür. Und um genau so etwas geht es wohl auch im heutigen Evangelium. Jesus hatte drei seiner Jünger beiseite genommen. Und in diesem Zusammensein wurde ihnen unvermittelt klar, was es mit diesem Jesus wirklich auf sich hat, dem sie da gefolgt waren. Seine Art zu leben, zu reden und zu handeln, die bald so selbstverständlich, bald so verwirrend fremd war, – alles ordnete sich damals für die drei Jünger zu einem stimmigen, einem beglückenden Ganzen. Es, nein: Er wurde durchsichtig wie Licht, so tief, dass sie sogar erkennen konnten, wie dieser Jesus mit den größten Gestalten ihres Glaubens zusammenhing: mit Mose, der gleichsam Gottes Gebote verkörpert, und mit Elija, dem Vertreter schlechthin aller Propheten, also all derer, durch die Gott um sein Volk ringt und Sorge trägt.
Irgendwo hatte Jesus in der Vertrautheit dieses kleinen Kreises wohl etwas gesagt oder getan, wahrscheinlich etwas ganz Beiläufiges, wodurch es den Dreien wie Schuppen von den Augen fiel, wie nahe sie in diesem Jesus dem Geheimnis Gottes gekommen waren. Der Evangelist bringt das dadurch zum Ausdruck, dass er erzählt, wie glücklich die Jünger im ersten Augenblick waren – Petrus, der handfeste Praktiker schlägt gleich vor, kleine Hütten zum längeren Verbleiben zu bauen; er möchte das Glück gleichsam festhalten. Wie sie sich im nächsten Moment im Schatten einer Wolke wiederfinden – dem uralten biblischen Sinnbild für die Gegenwart des unbegreiflichen Gottes. Wie sie dieses ganze Geschehen in Anspruch nimmt – zum Ausdruck gebracht dadurch, dass sie aus der Wolke eine Stimme hören, die ihnen sagt, dass sie auf Jesus hören sollen. Und wie ihnen das durch und durch geht und Angst macht – wie es Menschen geht, die sich vor Gott wissen. Und wie ihnen Jesus selbst diese Angst nimmt.

IV.
Dieses Angsthaben trotz der Beglückung ist mehr als verständlich. Kurz bevor die drei mit Jesus auf den Berg gestiegen waren, hatte er ihnen erstmals angedeutet, dass sein Reden von Gott und sein Handeln im Namen Gottes in einem gewaltsamen Tod enden könnte, und auch, dass das Bemühen, das eigene Leben nur das bleibe, was einer davon herschenke. Das hatten sie nicht verstanden und eigentlich auch nicht verstehen wollen. Und jetzt, da ihnen in solch sonnenheller, unbedingter Weise mit Gott selbst, dem letzten Grund von allem zu tun hat, das können sie gar nicht anders, als anzuerkennen, dass auch ebendas wahr sein muss, was sie nicht wahrhaben mochten.

V.
Jesus ist Schritt für Schritt in die Gewissheit hineingewachsen, dass es nichts gibt, was ihn dem lebendigen Gott entreißen könnte, nicht einmal das Sterben, erst recht nicht all das andere, was ein Leben zu bedrohen scheint. Daraus hat er seine unglaubliche Freiheit zum Leben gewonnen. Auf ihn hören heißt nichts anderes als diesen seinen Weg auch selbst zu wagen. Leicht ist das den Jüngern nicht gefallen. Wir brauchen nur an den späteren Leugner Petrus zu denken und daran, dass die Jünger am Karfreitag in alle Himmelsrichtungen auseinanderstoben. Aber trotzdem ist ihnen das Licht, der Stern aus jener Stunde auf dem Berg nicht nur nicht erloschen. Durch das Gestrüpp ihrer Angst sogar hat er sich Bahn gebrochen, hat sie bewegt, um den Preis ihres Lebens weiter von Jesus Zeugnis zu geben und anderen die Augen zu öffnen für das, was ein Leben trägt und unvergänglich macht. So möchten sie auch uns zu Führern auf den Berg der Verklärung werden. Freilich müssen wir dort verweilen, wenn uns klar werden soll, wer Jesus ist. Im Evangelium zu lesen und für das Beten Zeit zu haben, das wäre unser Berg. Vielleicht wird eine Sternstunde daraus.