"Mehr als ein menschliches Fabelthier" (J. G. Herder). Was sich Christen von Gott dürfen sagen trauen

4. Sonntag B (KHG Regensburg)

I.
Es passiert nicht oft, aber manchmal doch: dass ein theologisches Wort über den Umkreis seiner Herkunft und selbst über die Kirche hinaus öffentlichen Widerhall findet. So hatte vor gut zehn Jahren Johann Baptist Metz, ehemals Fundamentaltheologe in Münster, davon gesprochen, dass über das Christentum eine Gotteskrise gekommen sei. Es dauerte nicht lange, da tauchte dieses Wort sogar in bischöflichen Verlautbarungen auf. Was es genau bedeutete, war gar nicht so leicht zu greifen, in gewissem Sinn war es auch zweideutig, weil es genau genommen offen ließ, ob es Gott in der Krise sehe oder ihn stattdessen als deren Urheber. Aber irgendwie traf es bei manchen religiös sensiblen Zeitgenossen ein tiefgründiges Gefühl, ein Unbehagen auch. Vielen, auch Glaubenden, spirituell Suchenden, kirchlich Aktiven, war wohl das Wort Gott stillschweigend schon lange ein Fremdwort geworden, das sie lieber nicht in den Mund nahmen. Und wenn, dann war es Gebot der political correctness, den eigenen Gottesglauben sicherheitshalber hinter das Präfix einer Hypothese zu stellen, so etwa nach dem Motto eines englischen Pfarrers, der Ende des 19. Jahrhunderts in sein Tagebuch geschrieben hatte:
„Dear God, if You exist, save my soul if it exists.”

II.
Dabei war die Gotteskrise, die Metz da diagnostizierte, keineswegs neu. Dass der Glaube an einen Gott, der Person ist und handelt, unter fundamentale Zweifel gestellt wurde, das geschah schon gut zweihundert Jahre vorher. Die Theologie hatte es nur vergessen, vielleicht einfach verdrängt, weil ihr überzeugende Antworten auf diese Herausforderung zu viele ihrer herkömmlichen Lehren zu kosten schienen. Es war übrigens trotz der Erschütterung in ganz Europa nicht das große Erdbeben von Lissabon 1755, ein Tsunami übrigens, wie wir heute wissen, was diese Krise auslöste, weil es die Frage aufwarf, wie denn Gott so etwas zulassen könne. Es war stattdessen genau 30 Jahre später ein schlichter, auf den ersten Blick abseitiger Zwist zwischen zwei Philosophen über einen Dichter. Er löste einen Streit aus, der binnen kürzester Zeit alles, was im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts philosophisch, theologisch und literarisch Rang und Namen hatte, involvierte. Erst seit wenigen Jahren ist man sich unter Fachleuten einig, dass dieser Streit mindestens so grundstürzende Folgen für alles Reden von Gott hatte wie die Kritik, der Immanuel Kant die traditionelle Theologie unterzog. Doch was heißt hatte! Die Ausläufer des Streits reichen bis zu uns heute. Die neuen Debatten über Religion, die der 11.09.2001 ausgelöst hat, der öffentliche Verdacht auf Gewaltpotenziale der monotheistischen Religionen mit ihrem Anspruch auf den Unterschied zwischen wahr und falsch in Glauben und Handeln, die unverblümte Anfrage von Zeitgenossen, ob die, die an einen persönlichen Gott glauben, nicht bloß ihren Wunschgedanken aufsäßen, die verraten das.
Der Streit damals war darum gegangen, ob der kurz zuvor verstorbene Gotthold Ephraim Lessing, geistige Autorität und Dichterfürst seiner Zeit, seinen christlichen Gottesglauben aufgegeben habe und ein Pantheist, was soviel hieß wie Atheist, geworden sei. Und im heftigen Hin und Her zwischen Theologen, Philosophen, Poeten und auch um die öffentliche Ordnung besorgten staatlichen Organen war schnell klar geworden: Die Katechismusantworten reichen nicht mehr (wenn sie es denn je getan haben) – reichen jedenfalls dort nicht mehr, wo Glauben und Denken nicht zerspalten, sondern zusammengebracht werden, weil sich ein Mensch gehalten sieht, sein Leben als ein Ganzes bewusst zu führen. Die Beteiligten waren sich auch durchaus über die Mühen klar, die das macht – und dass diese Vielen zu viel sind:
„Die Leute wollen keinen Gott, als in ihrer Uniform, ein menschliches Fabelthier“,
stöhnte Johann Gottfried Herder, seines Zeichens hoher evangelischer Kirchenmann in einem Brief. Das war seine Variante des uralten, schon auf den Vorsokratiker Xenophanes von Kolophon zurückgehenden Arguments, dass sich Menschen ihre Götter nach ihresgleichen vorstellen und Tiere, hätten sie Götter, das genauso täten. Gerade so, wie das 1800 Jahre nach Xenophanes und 400 Jahre vor Herder Nikolaus von Kues auf die geniale Formel bringt, so wie die Menschen in ihrem Welt- und Gottverhältnis „hominizant“, also menscheln, so würden „omnes leones leonizare“ (würden alle Löwen löweln), wenn sie Götter kennten. Feuerbach nochmals 40 Jahre nach Herder wird aus dem Motiv den Ansatz einer wirkmächtigen Religionskritik und des ersten argumentativen Atheismus formen.
Anders Herder: Er nimmt die Krise des herkömmlichen Bildes von Gott, das einer über- und außerweltlichen Hyperperson, zum Anlass, einmal ganz andere Gedanken zu wagen, übrigens gar nicht so bibelfern, wenn man genau hinhört. „Ist denn Gott nicht jenes ureine Geheimnis, das da spricht: ‚Ich bin, der ich bin, und ich werde in allen Veränderungen meiner Erscheinung […] sein, was ich sein werde.’ […] Was Ihr, lieben Leute, mit dem ‚außer der Welt existiren’ wollt, begreife ich nicht: existiert Gott nicht in der Welt, überall in der Welt, und zwar überall ungemessen, ganz und unteilbar […], so existiert er nirgends. Außer der Welt ist kein Raum; der Raum wird nur, indem für uns eine Welt wird. Eingeschränkte Personalität paßt aufs unendliche Wesen ebenso wenig, da Person bei uns nur durch Einschränkung wird […]. In Gott fällt [dies] weg; er ist das höchste lebendigste, tätigste Eins – nicht in allen Dingen, als ob die was außer ihm wären, sondern durch alle Dinge, die nur als sinnliche Darstellung für sinnliche Geschöpfe erscheinen.“
An anderer Stelle wird Herder noch deutlicher, spricht sozusagen existentiell: „[…] was soll Dir der Gott, wenn er nicht in dir ist und Du sein Dasein auf unendlich innige Art fühlest und schmeckest und er sich selbst auch in Dir als in einem Organ seiner tausend Millionen Organe genießet! Du willst Gott in Menschengestalt, als einen Freund, der an dich denket. Bedenke, dass er alsdann auch menschlich, d.i. eingeschränkt an Dich denken muß, und wenn er parteiisch für Dich ist, es gegen andere sein wird. Sage also, warum ist er Dir in einer Menschengestalt nötig? Er spricht zu Dir, er wirkt auf Dich aus allen edlen Menschengestalten, die seine Organe waren, und am meisten durch das Organ der Organe, das Herz der geistigen Schöpfung, seinen Eingeborenen. Aber auch durch ihn nur als Organ, sofern er wie wir sterblicher Mensch war; und auch in ihm die Gottheit zu genießen, mußt Du selbst Mensch Gottes, d.i. es muß etwas in Dir sein, das seiner Natur teilhaftig werde. Du genießest also Gott nur immer nach deinem innersten Selbst, und so ist er als Quelle und Wurzel des geistigen, ewigen Daseins unveränderlich und unaustilgbar in Dir. Dies ist die Lehre Christus’ und Moses’, aller Apostel, Weisen und Propheten; nur nach verschiedenen Zeiten und nach dem Maß der Tiefe von der Erkenntnis und Genußkraft eines jeden anders gesaget. […] Machst Du mir diesen innigsten, höchsten, alles in eins fassenden Begriff zum leeren Namen, so bist Du ein Atheus (Atheist), […] Du musst auch zu uns herüber.“

III.
Keine Frage: Herder war keine theologische Koryphäe, so vieles ist da erst nur angedeutet, unausgedacht. Und doch hat er einen Punkt getroffen, dem die größten seiner Zeitgenossen, ein Fichte, ein Schelling, ein Hegel und Hölderlin bohrend nachgehen mussten, weil sie nicht anders konnten, und der die Theologie im Ringen um das rechte Reden von Gott nie mehr losließ und auch nicht loslassen darf: dass es da unerachtet aller Differenz zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde etwas gibt, einen Punkt, da das Unterschiedene sich berührt, ineins schwingt, ja einen Moment lang eins ist, weil wir sonst in unserer Endlichkeit schlichtweg nichts wüssten von dem ganz Anderen und je Größeren. Und dass wir in diesem Lidschlag der Berührung ahnen, dass wir diesem Größeren nicht fern gegenüber stehen, sondern uns in ihm bewegen und in ihm leben, weil außer ihm gar nichts sein kann, wenn es je das Größere ist, über das hinaus also Größeres gar nicht gedacht werden kann. Und, ja dies auch: dass es gar nichts Persönlicheres geben kann als das, was mich derart im Innersten meines Daseins meint und anrührt.

IV.
In solchem Nachdenken auf ungewohntem Weg bestärkt mich sehr, dass dieser Gedanke, wir müssten Gott als persönlich und als alles in allem zugleich denken, am überzeugendsten dort laut wird, wo Menschen aus illusionsloser Klarheit über das Leben oder aus ans Mark gehender Bedrängnis von Gott oder zu Gott sprechen. So kann ein Karl Rahner etwa einem Menschen in der Gottesnot und Glaubenssorge eines scheinbar leeren Herzens tröstend sagen: „Welcher Gott ist Dir eigentlich in dieser Leere des Herzens fern? Nicht der wahre und lebendige Gott, denn dieser ist ja gerade der Unbegreifliche, der Namenlose, damit er wirklich der Gott Deines maßlosen Herzens sein kann. Fern ist Dir nur geworden ein Gott, den es nicht gibt: ein begreiflicher Gott […], ein sehr ehrwürdiger – Götze. […] Laß in diesem Geschehen des Herzens ruhig die Verzweiflung Dir scheinbar alles nehmen […]. Denn, wenn Du standhälst […], dann wirst Du plötzlich inne werden, daß dein Grabeskerker nur sperrt gegen die nichtige Endlichkeit, daß seine tödliche Leere nur die Weite einer Innigkeit Gottes ist, daß das Schweigen erfüllt ist von einem Wort ohne Worte, von dem, der über allen Namen und alles in allem ist. Das Schweigen ist Sein Schweigen: Es sagt Dir, daß er da ist.“
Dass Rahner gerade im Zusammenhang von Sorge, Not und Tod diese Intuition der Unmittelbarkeit anklingen lässt und es sich bei dieser Denkform also um alles andere als eine leid- und theodizeevergessene Schönwetter-Theologie handelt, sollte hellhörig machen – und zwar um so mehr, als Rahner dabei nicht allein steht. Zwei andere Stimmen lassen sich im gleichen Zusammenhang namhaft machen, Stimmen zumal, die allein schon kraft der Situation, aus der sie zu uns sprechen, schnörkellos authentisch sind. Die erste, die ich nennen möchte, gehört einem der großen Dichter des geistlichen Liedes im 20. Jahrhunderts, dem evangelischen Pfarrer Jochen Klepper. Klepper war überzeugt, dass man nicht zeitenthoben Gott lobsingen kann. Darum darf nicht verwundern, dass vielen seiner Texte die Kollision zwischen Biographie und Zeitgeschichte zwischen die Zeilen geschrieben ist, die sich seit 1933 für ihn von Jahr zu Jahr verschärfte. Der Grund: Seine geliebte Frau war Jüdin. Ab einem gewissen Zeitpunkt verlangten die Nazis, er solle sich von seiner Frau scheiden lassen. Das verweigert er. Als Klepper schließlich sieht, dass er Frau und Kind nicht bewahren kann, gehen die drei gemeinsam aus dem Leben. Dennoch konnte Klepper 1933 in der sich schon verdüsternden Zeit noch dichten:
„Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand ohne Gott ein Tropfen in der Glut, ohne Gott bin ich ein Gras im Sand und ein Vogel, dessen Schwinge ruht. Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft, bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft.“
Die zweite Stimme begegnet in einem Brief, den der als Märtyrer von den Nazis hingerichtete Jesuit Alfred Delp am 17.11.1944 aus dem Gefängnis schrieb:
„[…] die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt für sehr viel […], für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort.“
Von einem Gott reden, der darin persönlich ist, dass er uns in allem, was uns berührt und zu allertiefst in uns selbst im Geheimnis unseres Ichseins sozusagen erstpersönlich entgegenkommt, das ist in dogmatischen Handbüchern zwar nicht vorgesehen. Aber – um ein Wort Lichtenbergs abzuwandeln: Wenn ein Handbuch und ein von Herzen gottsuchender Kopf zusammenstoßen und es hohl klingt, muss es dann unbedingt am Kopf liegen? Nur dürfen wir nicht vergessen, dass Gott auch noch größer ist als der kühnste Gedanke, den wir über ihn wagen.