Christlicher Zwischenruf

Predigt bei der KHG Dortmund im Sommersemester 2003: Lk 6,20-26

I.

Soeben haben wir Jesu Feldrede aus dem Lukasevangelium gehört, das Gegenstück zur ungleich bekannteren Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium. Haben wir sie wirklich gehört? Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. – Was ist das eigentlich für ein seltsames Gerede? Leute selig preisen, die Not leiden und denen es nicht gut geht! Friedrich Nietzsche hatte nicht viel übrig für das Christentum mit seinem Barmherzigkeitsgedusel, wie er sagte. Aber wenn ihm Verse aus dem Evangelium wie die Feldrede unter die Augen kamen, fing er regelrecht zu schäumen an. Er hielt sie schlichtweg für eine hintertriebene Erfindung derer, die im Leben zu kurz gekommen sind, mit den Starken nicht mithalten können und darum ihre Schwäche in einen Wert umlügen.

Kostprobe gefällig? "Es giebt – schreibt Nietzsche – bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme... Wie verhalten sich nun die genannten beiden grössten Religionen [Buddhismus und Christentum] zu diesem Überschuss der misslungenen Fälle? Sie suchen zu erhalten, im Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben allen Denen recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten es durchsetzen, dass jede andre Empfindung des Lebens als falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen anderen auch dem höchsten, bisher fast immer auch leidensten Typus des Menschen gilt und galt, noch so hoch anschlagen: in der Gesamt-Abrechnung gehören die bisherigen, nämlichen souveränen Religionen zu den Hauptursachen, welche den Typus Mensch auf einer niedrigeren Stufe festhielten, - sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn sollte."

Schon länger wissen wir, dass diese Denkungsart keineswegs der Vergangenheit angehört. Peter Sloterdijk hat mit seinem Gerede, dass die Zähmung des Menschen durch den Humanismus gescheitert und darum künftig seine Züchtung nach gentechnischen Regeln nötig sei, die Sicht Nietzsches auf Punkt und Komma fortgeschrieben. Und genauso auf Punkt und Komma würde er unterschreiben, was Nietzsche über den Glauben der Christen sagt: "Der christliche Gottesbegriff (so nochmals Nietzsche) - Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist - ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind;... Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! Gott, die Formel für jede Verleumdung des 'Diesseits', für jede Lüge vom 'Jenseits'! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen." – Und der beste Beleg dafür: Unser Evangelium von vorhin.

II.

Was also haben wir eigentlich gehört vorhin in den Seligpreisungen der Armen, Hungernden, Weinenden, Gehassten – und den Weherufen über die, denen ein Wehe angesagt ist, weil für sie das von all dem das Gegenteil gilt? Eine kleine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert könnte uns weiterhelfen.

Ein Weißer und ein Indianer gehen zusammen durch eine amerikanische Großstadt. Plötzlich bleibt der Indianer stehen und sagt: Ich höre eine Grille zirpen. Der Weiße antwortet: Unmöglich, hier in dem Lärm? Der Indianer tritt an eine Hauswand, an der sich ein Weinstock emporrankt, greift hinter ein Blatt und hält die Grille in der Hand. Tja, sagt der Weiße, ihr Indianer habt eben unheimlich scharfe Ohren. Nein, sagt der Indianer, wir hören nicht besser als ihr. Paß auf! Dann nimmt er ein Geldstück, lässt es auf den Bürgersteig fallen. Blitzartig drehen sich mehrere Passanten um und schauen, wo die Münze liegt. Wir hören immer das, worauf wir achten, sagt der Indianer. Bei uns ist es die Grille, ein Stück Natur, in der wir leben. Bei euch ist es die Münze.

III.

Wir hören immer das, worauf wir achten. Was hören wir, wenn wir auf Lukas 6,20-26 – unser Evangelium von vorhin – stoßen? Das, was Nietzsche hörte? Oder könnte da auch etwas ganz anderes gesagt sein? Zum Beispiel dies:

Wenn ihr überzeugt seid, dass ein Mensch mehr ist als sein Konto und seine Karriere, mehr als seine Ellenbogen, sein Cabrio und seine schnieke Wohnung; wenn ihr auch überzeugt seid, dass wenig daran hängt, wie ein anderer von außen aussieht, weil das Schöne immer von innen kommt und man nur um seinetwillen eine, einen anderen liebhaben kann; wenn ihr von all dem überzeugt seid und ihr darum an alle dem, was man haben, machen und leisten kann, nicht hängt und darum frei seid: Selig seid ihr!

Wenn ihr überzeugt seid, dass man Geld nicht essen kann, ja sogar, dass es nichts auf der Welt gibt, was uns wirklich satt macht, weil die Sehnsucht von uns Menschenkindern nach einem Erfülltsein dafür viel zu groß ist; dass uns der Hunger nach Brot und erst recht der nach Angenommensein und Liebe beständig daran erinnert, dass wir nicht aus uns selbst bestehen, sondern angewiesen sind auf das, was die Erde und die anderen für uns übrig haben – und wenn ihr dann noch begreift, dass es trotzdem gut ist mit uns so, wie es ist, weil ihr euch einem verdankt, der euch Leben gönnt und es euch gut meint und darum euren Hunger stillen wird: Selig seid ihr, selig jetzt schon, da ihr noch den Hunger spürt, weil er der euch zugleich die Verheißung gibt, einmal wirklich satt zu sein.

Wenn ihr überzeugt seid, dass es nicht nötig ist, immer gut drauf zu sein, da einem manchmal zum Heulen ist, weil ihr eine Chance vertut, einen wichtigen Wink nicht erkennt, ein anderer – gar lieber Mensch – euch hintergeht, ihr jemanden von eurer Seite auf immer verliert und untröstlich seid. Wenn ihr anerkennt, dass es all das im Leben geben kann und ihr weinen müßt – und trotzdem die Welt darüber nicht zerbricht, weil auch noch das menschlich gesehen Verfehlte und Verlorene, gerade es, in Gottes Hand geschrieben ist: Selig seid ihr.

Ja, und dann das andere auch noch: Die Seligpreisung für die, die wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus gehasst, ausgeschlossen und geschmäht werden. Wer überzeugt ist, dass das mit dem Armsein, dem Hungern und Trauern stimmt und das auch noch sagt, der muss mit solchen Reaktionen rechnen. Längst ist es darum auch bei uns wieder normal, Christinnen und Christen ihres Glaubens wegen zu verhöhnen. Zumal katholische. Katholischsein sei ungefähr so, wie wenn in einem muffigen Keller ungewaschene Unterhosen verbrannt würden, meinte neulich ein bekannter Kabarettist.

IV.

Dass ich nicht falsch verstanden werde: Es gibt genug Dinge in unserer Kirche, die einen die Wände hochgehen lassen könnten - die Beispiele zumal aus jüngster Zeit brauche ich Ihnen nicht aufzuzählen. Über manches davon kann ich nur noch den Kopf schütteln, über anderes ärgere ich mich tierisch. Aber über all dem darf zugleich nicht aus dem Blick geraten, dass das provozierend Unzeitgemäße am Christsein daherrührt, dass unser Glaube – ich muss es so schneidend sagen – eigentlich gar nicht zuerst Religion ist, sondern prophetische Aufklärung: ungeschminktes Hervorsagen der Wahrheit und damit Erkenntnis, wie es um uns Menschen im letzten steht.

Eben darum sind die Weherufe der lukanischen Feldrede, die ihren Seligpreisungen folgen, auch nicht Ausdruck der Schadenfreude derer, die ansonsten zu kurz kommen im Leben. Sie beschreiben lediglich, was denen passiert, die das Reichsein jetzt, das Sattsein jetzt, das Lachen jetzt, das schöne Gerede der anderen jetzt für das Ganze halten und sich darum an es klammern: Ihr habt weg euren Trost, wird ihnen gesagt (wenn man wörtlich übersetzt). Sie haben weg ihren Trost, weil sie vom Menschen viel zu klein gedacht haben – dass es mit ein bißchen Habe, reichlichem Essen, einer Bettaffäre und zünftiger Fröhlichkeit genug sei für ihn.

Wo doch Gott den Menschen so sehr viel größer gewollt, ihm gleichsam als persönliche Signatur die Unendlichkeit im Denken und Fühlen in die Seele geschrieben. Darum gibt seiner Sehnsucht Stimme, wer seinen Glauben bekennt. Und indem wir es jetzt gemeinsam tun, helfen wir einander, von uns selbst nicht zu klein zu denken.