Hineingezogen

Gründonnerstag B: 1 Kor 11,23-26 + Joh 13,1-15

I.

Wie oft habe ich als Kind tief beeindruckt hinauf geschaut: Die Seitenwände des Presbyteriums in der Kirche, aus deren Gemeinde ich stamme, schmücken zwei riesige Fresken – gemalt in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts: Rechts ein Ensemble altestamentlicher Opferszenen: Abels Brandopfer mit dem missgünstigen Kain dahinter, daneben der Priesterkönig Melchisedek beim Gottesdienst vor Abraham, daneben die von Gott selbst verhinderte Opferung des Isaak.

Gegenüber auf der anderen Wand in Großformat – als Antitypos: das Letzte Abendmahl, jetzt schon für Interessierte der heute jungen Generation ein eindrückliches Zeitdokument: Jesus mit einem Meßgewand bekleidet, ein Ziborium, also einen Speisekelch, in der Hand, die Jünger, ihnen voran Petrus, rings um den Tisch in Wartestellung hintereinander gereiht, um knieend mit gefalteten Händen in Mundkommunion die Hostie zu empfangen. Die reine Eucharistie sozusagen – Einsetzung des Altarsakraments und Apostelkommunion.

II.

Kein Grund übrigens für uns heute, über diese Vorstellung erhaben zu lächeln. Auch die vom letzten Konzil erneuerten Gebete für den Gründonnerstag Abend stehen noch in diesem Gefälle. Ein einziger Satz im heutigen Dritten Hochgebet deutet in eine andere Richtung, in eine, die für die Kunst des Mittelalters und der Renaissance zentral war und über besten biblischen Anhalt verfügt: das Ineinander von Abendmahl und Jesu Verrat durch Judas. Blendet man die schon in den Evangelien einsetzende Ausmalung der Judaslegende vom untreuen oder geldgierigen Kassenverwalter ab, der sich bald nach seiner Untat aus Reue erhängt, dann bleibt als harter Kern, dass die biblische Erzählung vom Abend des Gründonnerstags weder von der Stiftung eines neuen Kults geschweige denn etwa von der Weihe seiner Zelebranten erzählt, sondern davon, wie das brüderliche Mahl Jesu mit den Seinen durch einen erschütternden Vertrauensbruch umschlägt in den Beginn der Passion.

Das Johannesevangelium in seiner mystisch-spekulativen Höhensicht fasst diesen Zusammenhang in den Satz, der Teufel habe dem Judas schon ins Herz gegeben gehabt, Jesus zu verraten und auszuliefern. Die Kühle dieses lapidaren Diktums macht buchstäblich den Eishauch spürbar, der da in die Intimität der Abschiedsszene hineinweht. Das Gleiche hat auf nicht mehr zu überbietende Weise Leonardo da Vinci mit seinem Abendmahl im Refectorium des Dominikanerklosters S. Maria delle Grazie zu Mailand ins Bild gesetzt: Christus in der Zentralperspektive des riesigen Bildes wie der Fels in der Brandung, mit den Seinen über den gemeinsamen Tisch verbunden in den Gesten, mit denen seine Hände auf Brot und Wein weisen, und Judas, anders als auf vielen anderen Bildern, ihm ganz nah, mit einer Hand wie zurückzuckend von der Brotschale, er selbst wie von Schreck gefroren inmitten der Bewegung rings um ihn, das Gegenbild zu dem in sich ruhenden Jesus.

III.

Das ist genau der Augenblick, in dem der letzte und letztmögliche Versuch einer Widerlegung und Ausschaltung Jesu – scheitert, trotz der nachfolgenden Passion. Nein: wegen ihr. Judas hatte sich ja nicht von einem Anhänger zu einem Gegner Jesu gewandelt, weil er ein niedriger Charakter oder bequemer Mitläufer gewesen wäre. Im Gegenteil: Nach dem Wenigen, das wir über ihn mutmaßen können, war es Enttäuschung über das Unerfülltbleiben messianischer Hoffnung, die er in Jesus gesetzt hatte, was ihn zu seinem Tun bewog, eine Art trotziger Schlussstrich. Judas hatte wohl gehofft, dass Jesus das Gottesreich, von dem er so bezwingend zu reden wusste, herbeiführen, ihm nötigenfalls mit Gewalt Bahn schaffen würde. Er hatte aber überhört, dass genau das mit dem Gott, von dem da in Jesu Mund die Rede war, absolut nicht zusammenging. Weil Jesus von einem Gott erzählte, der es regnen lässt über Gerechten und Ungerechten und dessen Sonne aufgeht über Gerechten und Ungerechten. Einer, der das alte Ich-bin-der-ich-bin-da-für-dich vom Dornbusch bis zur Wurzel durchbuchstabiert und deswegen sagt: Wenn Du gut bist, bin ich für dich da. Und wenn Du böse bist, bin ich für dich da. Dann um so mehr und erst recht. Weil ich überzeugt bin, dass du dich erst dann zum Guten ändern kannst, wenn du, statt dich in Angst zu verkrümmen, von meiner Güte überwältigt, von meiner durch nichts zu beirrenden Liebe bestürzt bist. Wenn für die Ohren deines Herzens mein Gebot nicht mehr mit "Du sollst" oder "du sollst nicht" beginnt, sondern mit "Du wirst doch" und "Du wirst doch nicht", wenn Du Dich erinnerst, was du mir bedeutest und was ich für dich übrig habe. Jede Form der Gewalt zur Durchsetzung dieses Gottesbildes hätte dieses selbst – und wäre sie noch so subtil gewesen – dementieren, der Lüge überführen müssen. Daher predigte Jesus so, wie er es tat, und darum war er zur Beglaubigung seiner Predigt so, wie er war. Er konnte nicht anders sein, sondern wäre er anders gewesen als der Gott ist, für den er stand.

Was freilich auch heisst: Zu dem atemberaubenden jesuanischen Gottesprojekt gehört von seiner Wurzel her eine durch und durch gehende Verletzbarkeit, ein Ausgesetztsein an die Logik der Gewalt, weil es selbst von Wesen einer Logik des Gewaltverzichts folgte, folgen musste. Das Für-dich der Liebe will nie zwingen. Es kann es einfach nicht. Das ist sein Preis dafür, dass es bis in die Mitte selbst verhärtetster Herzen vordringen kann. Johann Sebastian Bach hat genau das im Blick, wenn er in seiner Matthäus-Passion auch noch dem zum Verräter Gewordenen Judas in einer Baß-Arie mit Violin-Solo nachsingen lässt:

Gebt mir meinen Jesum wieder!
Seht, das Geld, den Mörderlohn,
Wirft euch der verlorne Sohn
Zu den Füßen nieder.
Gebt mir meinen Jesum wieder!

Der Verlorenste der Verlorenen noch gehört zu den Heimkehrenden, wenn er sich nicht selbst aus der bedingungslosen Zugewandtheit des Vaters exkommuniziert.

IV.

Leonardo und andere haben schon richtig gesehen: In der Szene des Letzten Abendmahls geschieht tatsächlich nichts anderes als eine bis zum letzten zugespitzte Verdichtung dieser Reich-Gottes-Botschaft Jesu, ihrer Revolution, die das Oberste zuunterst kehrt, Gott zum reinen Für-uns, zum Diener der Menschen macht – einschließlich der Verwundbarkeit, die das mit sich bringt.

Dann darf uns aber auch nicht wundern, dass diese innerste Mitte des Abendmahls zugleich die Mitte jeder seiner Vergegenwärti-ungen bildet und darum jedesmal aufklingt, wenn wir Eucharistie feiern. Wir hören es bloss meist nicht mehr, weil es so vertraut ist. Dabei hat Paulus das, worum es geht, im Ersten Korintherbrief in ein geniales Wortspiel gefasst, das in den Hochgebeten der Messe anklingt:

Ich habe vom Herrn empfangen,
was ich euch dann überliefert habe:
Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot...

Im griechischen Urtext steht in beiden Sätzen an der Prädikatstelle – nur um eine Silbe anders im Deutschen – das gleiche Wort: eine Form von paradidonai – das gleiche Wort also für überliefern und für ausliefern. Auch im Lateinischen ist das so: tradere, traditio heißt es da – und das Wort steht gleichermaßen für Überliefern und für Ausliefern im Sinn von Verraten. Außer Frage steht, dass der Rhetoriker Paulus das nicht mit Absicht so gesagt hätte, dass das Überliefern der Abendmahlsszene in das Ausgeliefertwerden Jesu einschwingt und umgekehrt. Ist dieses Oszillieren einmal wahrgenommen, weitet es sich sozusagen schlagartig ins Große: Das menschliche Ausgeliefertwerden Jesu gründet darin, dass Gott selbst ihn und in ihm sich selbst ausgeliefert hat, weil er in seinem bedingungslosen Für-seine-Geschöpfe-Dasein sich so verletzlich gemacht hat. Und umgekehrt ins Kleine gewendet: Das Brotbrechen und Trinken aus dem einen Kelch ist nichts anderes als Überlieferung, traditio dessen, was in der Abendmahlsnacht zum Vermächtnis wurde: dass im Tun, wie er getan hat, die Auslieferung Jesu und in ihr wiederum das Innerste Gottes Gegenwart wird, der Reich-Gottes-Herzschlag sozusagen.

Das Dramatische an diesem Ineinander wird noch gesteigert, wenn man den größeren Zusammenhang hinzu nimmt, in dem Paulus auf die zu ihm gelangte Überlieferung zu sprechen kommt: Er erinnert daran, weil er seinen Adressaten, der Gemeinde von Korinth, vorhalten muss, dass sie drauf und dran sind, das Vermächtnis Jesu, seine Herzenssache, die Reich Gottes heißt, - Achtung – zu verraten! Kamen doch die Wohlhabenden der Gemeinde zusammen und schlugen sich den Bauch voll, ohne auf die Armen zu warten, die Tagelöhner, die bis zum Abend schuften mussten und erst dann Zeit hatten für die Gemeindeversammlung. Das symbolische Brotbrechen, in das sie dann noch einbezogen wurden, war eine Farce, hatte mit dem gelebten Leben, geschweige denn mit gelebtem Glauben im Horizont der jesuanischen Gottesrede nichts mehr zu tun. Paulus hielt das schlicht und einfach für – Achtung! – Verrat. Verrat an der Überlieferung von der Auslieferung Gottes, an seinem Für-sein.

V.

Wir halten jetzt Gründonnerstag-Abend, die Stunde von Jesu Abschiedsmahl. Indem wir begehen, was er uns überliefert hat, liefern wir uns dem aus, was sein Ein und Alles war – im Wissen darum, wie hauchdünn die Trennscheide zwischen Überlieferung und Verrat sein kann. Und wer könnte ernsthaft von sich sagen, sein Eucharistiefeiern wäre nie im Widerspruch zu dem gestanden, was er/sie getan und gelassen hat! Hoffen nur können, aber dürfen wir auch, dass wir durch das, was wir jetzt tun, im letzten hineingezogen sind in das, was Gott selber tut – und ist. Mehr können Menschen nicht wollen.