Zeit und Freiheit

33. So A. Mt 25, 14-30

I
Rudolf Augstein, Begründer des „Spiegel“, wollte ursprünglich Schriftsteller werden. Sein großes Vorbild war Heinrich Heine. Dessen Ineinander von Scharfsinn und Poesie, von Ironie und Brillanz hatten es ihm angetan. Auch sein Umgang mit Religion: voll bissiger Kritik und dennoch Gottsucher. Darum wollte Augstein als erstes ein Buch über die Religionskritik in Heines Briefen schreiben. Doch er ließ das Projekt liegen und machte sich an ein Theaterstück. Das trug den Titel „Die Zeit ist nah“ – der religiöse Unterton ist unüberhörbar. Das Stück ging total daneben. Augstein begrub alle seine schriftstellerischen Pläne und gründete sein politisches Magazin. Dessen Verhältnis zum Christentum und den Kirchen kritisch zu nennen, wäre eine Verharmlosung. Und trotzdem: Als man Augstein einmal den berühmten FAZ-Fragebogen zum Ausfüllen vorlegt, schrieb er auf die Frage „Was möchten Sie sein?“ die Antwort: „Zu mir selbst gerecht und ein guter Christ.“

II
Da hat sich unter aller Religionskritik, die manchmal Kirchenhass wurde, etwas durchgehalten – auch wenn es gebrochen war. Ich will nicht zu viel spekulieren, aber liegt ganz abseits, dass dieser Bruch mit dem misslungenen Bühnenstück zu tun haben könnte? Das hätte dem urchristlichen Thema der Zeit und ihrem Ende gewidmet sein sollen – also auch dem Zusammenhang von Recht, Gericht und Gerechtigkeit. Das ist ein haariges Thema bis heute. Seine theologische Achse ist übrigens nichts anderes als der Advent: Wiederkunft Christi, Ende, Zeitbefristung. Kein Zufall übrigens, dass dieses Thema bereits aufklingt, 14 Tage bevor liturgisch der Advent beginnt. So wird der Versuchung widerstanden, dass Advent auch noch in der Kirche zu der heimelig-romantischen Vorweihnachtszeit herunterkommt, zu der er bürgerlich längst geworden ist.

III
Gleichnisse wie das heutige geben dem Advent seinen Ernst zurück, indem sie uns sagen: Du hast etwas zu versäumen! Das Gleichnis von vorhin schöpft dazu seine Bilder – ausgerechnet – aus der Welt der Finanzen. Was aber könnte heute verständlicher sein, da firmengründende Kollegstufen-Schüler keine Seltenheit mehr sind, die spätestens mit 20 ihre erste Million eingefahren haben! Klar: Da bekommt einer fünf Talente Silbergeld, ein anderer zwei, ein dritter eines, jeder nach seinen Fähigkeiten. Der Kreditgeber reist ab. Der mit den fünf gewinnt fünf dazu, der mit den zwei zwei. Der dritte versteckt das Geld. Und dann kommt der Tag der Abrechnung. Wieder klar: Der erste steht blendend da mit seinem Ergebnis, der zweite nicht weniger – eben nach seinen Möglichkeiten. Katastrophe für den Dritten: Nichts riskiert, nichts gewonnen, nicht einmal das Harmloseste versucht – das Geld auf die Bank zu bringen und darum den Zins bieten zu können. Entsprechend die Folgen: Er verliert auch noch das Geringe, das ihm anvertraut war.

Glatte Logik. Zu glatte. Für die Hörerschaft Jesu wie für die ersten Leserinnen und Leser des Evangeliums ging das Gleichnis mit einigen Irritationen einher, die wir Heutigen uns erst ausdrücklich vergegenwärtigen müssen, weil wir über sie gewohnheitsgemäß hinweghören oder aber weil sie außerhalb unseres Horizontes liegen. Da sind zum einen die wirtschaftlichen Erfolge des ersten und zweiten Knechts: Der eine macht aus den fünf Talenten weitere fünf, der andere an den zwei wiederum zwei. Beide verdoppeln also das anvertraute Kapital. 100% Rendite mithin. Das versprechen selbst heute noch nur die windigsten Spekulanten den naivsten Anlegern. In diesen surrealen Kategorien aber spricht Jesus vom Gottesreich mit schierer Selbstverständlichkeit.

Und dann noch irritierender, im Grunde ärgerlich zumindest für die Hörerschaft damals: daß der dritte Diener die Rüge kassiert, warum er denn das eine Talent nicht auf die Bank gebracht und so wenigstens die Zinserträge eingefahren habe, während jeder Tora-Kundige – wie es die judenchristlichen Leser des Mattäus-Evangeliums gewiß waren – um das vehement eingeschärfte Zinsverbot wusste: Wer solchermaßen aus der Notlage anderer Profit schlug, galt schlichtweg als Frevler. Unser Evangelium macht sich diese Anstößigkeit und jenes Surreale der 100%igen Rendite zunutze, um – typisch für Gleichnisse überhaupt – die Hörerschaft, also auch uns, zu treffen, aufzurütteln: Wie es die Heiden halten beim Geld, Zinsen eintreiben, so hoch es nur irgend geht, und spekulieren bis zum Anschlag – so sollst Du Dich um das Gottesreich mühen. So ungewöhnlich und das Gewohnte außer kraft setzend.

Doch was heißt das näherhin: Um das Gottesreich mühen? Mir fällt eine Antwort darauf so schwer, dass ich das Gegenteil des Gemeinten leichter ins Wort zu bringen vermag. Dabei hilft mir Georg Bernanos, der Sensible, gern mit Dostojewskij auf eine Stufe Gestellte. Den Protagonisten in seinem Roman „Tagebuch eines Landpfarrers“ lässt er an einer Stelle sagen: „Nein, ich habe den Glauben nicht verloren. Der Ausdruck ‘den Glauben verlieren’, so wie man seinen Geldbeutel verliert oder einen Schlüsselbund, ist mir übrigens immer ein wenig albern vorgekommen... Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben. Das ist alles. Und darum haben erfahrene Lenker der Herzen nicht unrecht, wenn sie gegenüber geistigen Krisen ihre Zweifel hegen, denn die sind gewiss viel seltener, als man behauptet.“

Dass der Glaube aufhört, dem Leben Form zu geben – das, denke ich, ist exakt das Gegenteil des vom Evangelium angemahnten Ringens um das Gottesreich. Mit seinen wenigen kommentierenden Worten entlarvt Bernanos dabei die Rede vom Glauben-Verlieren als das, was sie in Wahrheit ist: der Versuch einer Selbstentschuldigung – genau wie in unserem Gleichnis, wo der dritte Diener seine Tatenlosigkeit mit seinem Wissen um die Strenge des Herrn begründet. Gewiss gibt es Fälle, in denen jemand den Glauben verliert, weil ihn das Schicksal dermaßen schlägt, dass ihm der Gedanke an einen gütigen, barmherzigen Gott nur noch zynisch anmutet. Oder einem verdunkelt sich die Seele in so abgründiger Angst und Trauer, dass er nicht mehr weiß, was es heißt, sich jemandem anzuvertrauen. Oder jemand gerät in jenes verlorene Land, wo Menschen Opfer der Dummheit und Anmaßung anderer werden, die für sich beanspruchen, im Namen Gottes und der Kirche zu handeln – so wie jene Ordensschwester, die auf dem Sterbebett sagte: „An den Himmel kann ich nicht mehr glauben. Aber an die Hölle glaube ich – wegen meiner Oberinnen und dem, was sie mir angetan haben, als ich jung war.“ Das sind geistige Krisen, und die, die sie durchleiden, dürfen wir getrost in Gottes Hand wissen.

Der Normalfall des Glaubensverlustes ist das nicht. Das Schlimme an diesem Normalfall ist seine Banalität. Glaube und Leben entwickeln sich unmerklich auseinander, und eines Tages merkt der Betroffene, das ihm sein Glaube nur noch Vergangenheit ist, wie ein altes Foto, das man manchmal hervorkramt und das einem ohne Bedauern die Bemerkung entlockt: „Ja, so war das einmal.“ Das hatte Bernanos im Blick, als er schrieb: „Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben. Das ist alles.“

Dem Leben Form geben – daran hängt, dass Glaube wirklich ist. Aber was heißt das: dem Leben Form geben durch Glauben? Eine chassidische Geschichte sagt es so: Ein Mann hatte in seinem Leben so gut wie keines der Gebote Gottes gehalten und viel Böses getan. Nur ein Gebot, ein winziges, hatte er immer gehalten: nie etwas zu essen, ohne sich vorher die Hände zu waschen. Tagelang schon ist er unterwegs, der Hunger quält ihn. Als er zufällig einen anderen Wanderer trifft und ihn anbettelt, reicht der ihm ein Stück Brot. Schon will er es gierig verschlingen. Da fällt ihm das Händewaschen ein, das einzige Gebot, das er immer gehalten hatte, wenigstens dieses. Er kann kaum widerstehen: das Brot, das er in Händen hält, und sein Hunger dazu. Und trotzdem: Nein. Er geht weiter, rennt manches Stück, um an einen Bach, auch nur eine Pfütze zu kommen für das Händewaschen. Und um dessentwillen, sagt die Geschichte, wurde ihm alles andere vergeben.

Form geben besteht darin, dem Sichs-leicht-machen nicht nachzugeben. Irgendwie surreal: zu Deutsch "über-wirklich". Aber, wie anders auch sollte sich das, was das Evangelium "Gottesreich" nennt, zur Geltung bringen, wo Hinz und Kunz wie selbstverständlich von Realitätszwängen reden?

IV
Dem Leben durch den Glauben Form geben heißt, dem Sichs-leicht-machen nicht nachgeben. Leicht gesagt, umso schwerer getan natürlich. Es scheint Situationen zu geben, da geht das Formgeben ab einem gewissen kritischen Punkt wie von selbst: Franz Jägerstätter fällt mir dazu ein, der Südtiroler aus einfachsten Verhältnissen, der sich ohne jedes Machtmittel kategorisch den Nazis entgegenstellt. Oder die Geschwister Scholl und die anderen von der "Weißen Rose", die im Foyer der Münchener Uni aus Gründen ihres christlich grundierten Gewissens Anti-Hitler-Flugblätter abwerfen und darum hingerichtet werden. Oder – natürlich – ein Maximilian Kolbe. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Anders als sonst im Leben nimmt sich dieses Formgeben diesseits extremer Situationen schwieriger aus als in ihnen. Dennoch steht und fällt mit ihm alles. Es ist die kleine Treue des Werktags, auf die es ankommt. Der ungerechte Vorteil, der nicht mitgenommen wird, die harmlose Lüge, die sich jemand versagt, die ungute Nachrede, die unausgesprochen bleibt. An solchen – scheinbaren – Beiläufigkeiten hängt oft das Ganze. Und es kann so unendlich schwer sein.

Warum das so ist, spricht die Passage unseres Gleichnisses an, die dem dritten Diener gewidmet ist und nicht umsonst auffällig ausführlich ausfällt. Ratgeberin für sein Verhalten war – so sagt er es selbst – die Angst gewesen: Weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Offenkundig die schlechteste mögliche Beraterin, wenn es um die Sache Gottes geht. Und wie auch anders! Wollte man versuchen, die Mitte des Evangeliums in einem einzigen Wort zu verdichten, dann könnte dieses Wort nur "Freiheit" heißen. Sie ist auch der Hintergrund für das, was der erste und zweite Diener gewagt haben. Dem dritten hat die Angst Gott als strengen – wörtlich übersetzt als "harten" – Mann erscheinen lassen, der erntet, wo er nicht gesät, und sammelt, wo er nicht ausgestreut hat. Daß man vor einem solchen Gott nichts zu gewinnen hat und nur alles verlieren kann, ist wahrlich kein Wunder. Und auch nicht, dass ihm das Wenige, das er hat, wie weggenommen vorkommt – und er sich selbst wie verworfen.

V
Unter dem Vorzeichen der Freiheit – und nur unter ihm – ist Zeit Gnade. Unter dem Vorzeichen der Angst wird sie Fluch. An der Stelle wäre jetzt natürlich eine Predigt fällig über das Thema: Die Zeit und die Kirche – oder wie Letztere es mit der Freiheit hält. An diesbezüglichen Schieflagen haben sich Augstein und sein „Spiegel“ manchmal bis zum Exzess gerieben – haben dabei Richtiges gesehen und konnten zugleich ungerecht, ja infam werden. Da ging das Gespür für das Surreale, also Übernatürliche des Christlichen verloren, das darin besteht, dass das Ende mitten in die Zeit hereinragt. Und trotzdem blitzte und blitzt selbst hinter verzerrender Kritik bisweilen ein Wahrheitskern auf: die Erinnerung daran, dass der einzelne Gläubige wie die Kirche als ganze etwas zu versäumen haben. Ein Spruch aus dem Mittelalter, dessen Herkunft sich nicht mehr aufklären lässt, bringt diesen Kern so auf den Punkt: Die Zeit ist mehr als alle Ewigkeiten, hier kannst du dich, nicht dort dem Herrn bereiten.