In Weihnachten verstricken

Fest der Hl. Familie A: Mt 2,13-15; 19-23

I.
Vor ein paar Tagen haben wir Weihnachten gefeiert. Noch kommen ein paar festliche Tage. Aber der gefühlte Höhepunkt ist schon vorbei. Zugleich ist alles umgriffen von der Zeit zwischen den Jahren, wie man so sagt, von Stunden manchmal auch, da man leichter als sonst etwas innehält und ein wenig Bilanz zieht, was denn so gewesen ist.

II.
Das freilich kann man nicht nur im Blick auf die Ereignisse der letzten zwölf Monate tun. Solche Rückschau kann man auch einmal mit Blick auf die eigene Innenseite, das eigene Umgehen mit Gott und dem Glauben halten. Und dazu könnte – zumal in diesen Tagen jetzt – auch die Frage gehören: Was bedeutet mir eigentlich das Evangelium von Jesu Geburt? Hat mein Glaube, dass Gott Mensch geworden, alles mit uns geteilt hat, auf Augenhöhe und in einem Du auf Du, – hat das bislang in meinem Leben eine Spur hinterlassen? Oder wäre ohne die Weihnachtsbotschaft alles genauso verlaufen, wie es bisher gewesen ist? Und wenn ich antworten müsste: Eigentlich ist da kein Unterschied, dann müsste ich mir eingestehen, dass ich das Fest und den Werktag offenkundig streng getrennt gehalten habe. Glauben freilich bedeutete genau das Gegenteil, geradezu ein ineinander Verweben von beidem.

III.
Vielleicht gelingt das ausgerechnet mit dem heutigen Evangelium leichter noch als mit der Geschichte aus der Heiligen Nacht. Es handelt sich um die Erzählung von der Flucht nach Ägypten. Das Besondere dieser Geschichte beginnt schon damit, dass in ihr erstmalig einer als Hauptfigur auftritt, der sonst in sämtlichen Weihnachtsevangelien nur ganz am Rande in Blick kommt: Josef, der Mann Marias, wie Matthäus ihn nennt. Die allermeisten Weihnachtsbilder der Kunst stellen uns den Josef, den Kopf der Familie, abseits von Maria und dem Kind in einer Haltung der Rat- und Fassungslosigkeit vor Augen, so als wollten sie sagen, dass der Kopf, der Verstand, dieses göttliche Wunder einfach nicht begreifen kann.
Umso bedeutsamer aber, was uns im heutigen Evangelium über diesen nicht begreifen könnenden Josef gesagt wird: dass er, um das Kind zu retten, dreimal tätig wird auf Weisung eines Engels, der ihm im Traum erscheint. Er, der Kopf, der nicht verstehen kann, traut der Eingebung Gottes, der Stimme seines Gefühls in seiner Seele und bringt die ihm Anvertrauten in Sicherheit außerhalb des Machtbereichs des Königs Herodes. Damit sieht der Evangelist den Josef als den eigentlichen Gegenspieler des Herodes. Beide sind ja – auf gewiss sehr verschiedene, aber in einem letzten Punkt doch vergleichbare Weise – Häupter, Oberhäupter, solche, die das Sagen haben. Aber beide reagieren im Angesicht des Neugeborenen, des gottgeschenkten Lebens unvergleichlich verschieden. Beide begreifen nicht – Herodes wird darum misstrauisch und mordet; Josef hört die himmlische Stimme im Traum, er vertraut der Botschaft seiner Seele und schützt das Neugeborene, damit es überleben und groß werden kann. Der eine hält Gott und Leben strikt getrennt, der andere verwebt das eine ins andere.
Jeder Mensch, der irgendwann einmal die Botschaft der Heiligen Nacht dankbar ergriffen hat, gerät eines Tages unweigerlich vor diese Alternative Josef oder Herodes. Wer sich der Weihnachtsbotschaft öffnet, darf hören: Gott will unbedingt, dass du bist; du darfst sein, so wie du bist, musst Dir dein Leben nicht erst verdienen. Im Sinnbild des kleinen Kindes, das Gott wählt, um sich in ihm mitzuteilen, ein Menschenbündel, das nichts hat und nichts leistet, hat er diese Zusage unkündbar besiegelt. Doch: Wie stehe ich zu dieser Wahrheit? Macht mir dieses Geheimnis meines Daseins, dass ich gratis, unverdient leben darf, macht mir das am Ende Angst um mein Recht und meine Macht – wie dem Herodes, so dass ich das neu aufkeimende Leben in mir unterdrücken und auslöschen muss? Oder stelle ich mich statt dessen mitsamt der Kraft meines Verstandes – obwohl er nichts so recht begreift davon – hinter den gottgeschenkten Neuanfang in mir und behüte ihn, damit er heranreifen kann – wie Josef? Es ist genau so, wie es Friedrich Schlegel, das romantische Dichtergenie, einmal sagte: dass das Kostbarste, was ein Mensch besitzt, irgendwo zuletzt an einem Punkt hängt, der im Dunklen gelassen werden muss, dafür aber das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblick verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen, also über ihn verfügen wollte. Man könnte im Blick auf unser Evangelium von heute von einem Josefspunkt reden, den es in jedem Leben gibt und an dem schier alles hängt.

IV.
Wie ich dazu komme, die Erzählung von der Flucht der Heiligen Familie auf die Geschichte unseres eigenen Lebens zu übertragen, fragen Sie jetzt vielleicht. Sehr einfach: weil das Evangelium selber das tut. Nicht zufällig führt die Flucht ja nach Ägypten, und nicht zufällig befiehlt nach dem Tod des Herodes ein Engel dem Josef im Traum, mit dem Kind und seiner Mutter in das Land Israel zu ziehen. Hinter diesen Worten leuchtet die Erinnerung an ein ganz anderes, an das wichtigste Ereignis des ganzen Alten Bundes schlechthin auf: Israels Auszug aus Ägypten ins gelobte Land. Der Exodus ist das Drama, wie Gott sein Volk in die Freiheit führt, heraus aus der Unterdrückung, heraus aus allem, was wahres Leben abwürgt und unmöglich macht. Diesem Durchbruch folgte über die Jahrhunderte hin ein Auf und Ab von Hoffnung und Angst, das immer zu tun hatte mit einem Hin und Her des Volkes zwischen Vertrauen und Misstrauen gegen seinen rettenden Gott. Mit der Geschichte von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten und der Rückkehr sagt uns das Evangelium, dass Jesus persönlich das Geschick des erwählten Volkes auf sich nimmt, d.h. seine bewegte Freiheitsgeschichte, in der sich ja nur äußerlich verdichtet, was einem jeden Menschen auf seiner Suche nach gelungenem, befreiten Leben widerfährt. Das nimmt Jesus auf sich – dazu ist er von Gott gesandt –, um die dem Abraham gegebene Verheißung der Heilung allen Lebens vom Misstrauen und der ihm entstammenden Unfreiheit einzulösen und damit zu tun, was sein Name besagt: Jeshua – Gott rettet.
Die scheinbar so beiläufige Fluchtgeschichte deutet uns also an, was der Sinn all dessen ist, was im Evangelium nachfolgend von diesem Jesus noch alles erzählt wird – angefangen von der Taufe im Jordan bis hin zu Kreuz und Auferstehung. All das geschieht einzig und allein um unserer Befreiung willen, damit jeder als er selbst leben kann, so wie Gott ihn geschaffen hat. Dass dem Josef nach der Rückkehr aus Ägypten durch ein drittes Traumwort befohlen wird, nicht nach Judäa zu gehen, wo in Gestalt des Archelaos immer noch Herodianisches, also Todbringendes regiert, sondern nach Galiläa, das klingt wie eine allererste Vorahnung, dass die in Jesus geschehende Befreiungstat Gottes nicht gradlinig ans Ziel kommen, sondern sehr unerwartete, abseitige Wege gehen wird – der allererste Widerhall der Passionsgeschichte ist das schon.

V.
Das alles konnte nur geschehen, weil Josef ganz Ohr war für die Gottesstimme in seiner Seele, die die Bibel „Engel“ nennt. Auch das gehört zum Weltabenteuer Gottes, das wir Weihnachten nennen. Das aber heißt: Der Josef war der Gehorsame in der Familie von Bethlehem. So konnte er das Kind behüten und ihm ein Leben auftun, in dem es heranreifen konnte zu einem eigenen Gehorsam seiner göttlichen Bestimmung gegenüber, der es so frei und menschlich hat werden lassen, dass es zum Befreier all derer hat werden können, die sich ihm anvertrauen. Wie viel menschliches Leid, wie viel Glaubensnot, wie viel Hass auf die Kirche auch würden nie entstanden sein, wenn christliche Familien nicht das bürgerliche Kitschbild der Heiligen Familie zu kopieren gesucht hätten, sondern selber eine solche Lebensschule des Ganz-Ohr-Seins gewesen wären, wie die Heilige Familie es in Wahrheit gewesen ist. An dem Punkt kann das heutige Fest dann sogar zum Gewissensspiegel werden.