Von der richtigen Pforte

Ostermontag A: Lk 24,13-35

I
Gestern Nacht haben wir das Hochfest unseres Glaubens gefeiert. Jetzt halten wir 50 Tage Ostern. Wir brauchen diese Zeit, um dessen inne zu werden, was wir begangen haben. Die Seele muss dem Tun nachkommen, es ist zu dicht, um alles gleich im ersten Moment zu erfassen. Ostern braucht Zeit. Das gilt nicht nur für uns, das war schon bei denen so, die Jesus menschlich am nächsten standen, seinen Jüngerinnen, Jüngern und Freunden, auch bei den Zwölf. Um dieses Zeit-Brauchen geht es auch im heutigen Evangelium, der berühmten Emmausgeschichte.

II
Da sind zwei von denen, die dieser Jesus in Bann gezogen hatte auf dem Heimweg, weg aus diesem furchtbaren Jerusalem, in ihr Dorf. Im Dahinwandern, bleierne Enttäuschung in den Knochen, gehen sie nochmals miteinander durch, was passiert war vom Gründonnerstagabend bis zum Karsamstag. Auch die Nachricht der Frauen vom Ostermorgen hatten sie schon gehört. Aber sie konnten nichts anfangen mit ihr – und eigentlich mit gar nichts von dem, was gewesen war. Daran ändert zunächst auch der seltsame Fremde nichts, der sich ihnen anschließt. Als sie ihm auf sein Nachfragen hin nochmals alles erzählen, belehrt er sie, dass sie all das, was ihnen jetzt wie ein einziges Tohuwabohu vorkommt, auf Strich und Komma im Tenach, also ihrer Bibel, die wir Altes Testament nennen, entschlüsselt finden können. Aber sie verstehen nichts. Sie haben nicht – noch nicht – den Blick dafür. Den Blick für das Wesentliche und darum Wahre. Denn um genau das geht es ja.

III
Diesen Blick zu gewinnen, ist manchmal gar nicht so leicht. Marcel Proust hat das in seinem Meisterwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auf den Punkt gebracht, als er schrieb, dass uns erst in dem Augenblick, in dem uns alles verloren scheint, zuweilen die Stimme erreiche, die uns retten könne: Man hat an alle Pforten geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann und die man vergeblich hundert Jahre hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf.

IV
Ganz ähnlich verhält es sich bei den Emmaus-Jüngern. Sie haben zuerst ihre Gedanken bei dem, was eben geschehen war - und begreifen nichts. Dann lenkt sie der Fremde von unterwegs auf die Worte der Heiligen Schrift. Und sie begreifen immer noch nicht. Doch hätte da bei ihnen eigentlich schon der Groschen fallen müssen. Ausgehend von Mose und den Propheten legt er ihnen den Sinn des Schicksals Jesu aus – will sagen: Er macht ihnen klar, dass, wer den Gottesgeschichten von der ersten Seite der Bibel an auch nur einen Funken Glaubwürdigkeit zutraut, diesen Jesus nicht für tot halten kann. Da ist doch schon im Buch Genesis von einem Gott die Rede, der selbst denen fürsorglich zugetan bleibt, die sich von ihm abgewandt haben. Wenn Sie sich erinnern: Adam und Eva haben aus Misstrauen in Gottes Güte ihr Geborgensein in ihm verloren, fühlen sich darum aus dem Paradies, dem behütenden Traumgarten, ausgestoßen in ein Jammertal voll Plage, Disteln und Dornen. Und doch macht ihnen der nun scheinbar so fremd und bedrohlich gewordene Gott noch Kleider aus Fellen, dass sie nicht ganz schutzlos in die kalte Welt der Gottferne ziehen müssen.

Oder aber, wie Gott sogar noch den Mörder Kain durch das Mal, das er ihm auf die Stirn zeichnet, davor schützt, das gleiche Schicksal eines gewaltsamen Todes zu erleiden, das der über seinen Bruder gebracht hatte. Oder die Rettung der Noachsippe über die Flut hinweg. Und dann das durch nichts zu enttäuschende Ringen dieses Gottes um sein Volk angefangen von Abraham, und nicht zu beirren durch das Murren auf dem Weg ins gelobte Land heraus aus der ägyptischen Knechtschaft, nicht zu beirren durch das goldene Kalb, später durch die politischen Kungeleien, die ins babylonische Exil mündeten, nicht zu beirren durch das immer wieder von den Propheten angeklagte Schuldigbleiben der Barmherzigkeit gerade den Kleinen und Schwachen gegenüber, in der sich nichts anderes als Untreue gegenüber dem Gott kundtut, der das kleine Israel nie vergessen hat. Und der Gott, der so ist, der wird den hängen lassen, der sich ihm mit Leib und Leben so verschrieben hat, wie dieser Jesus das tat? Die Antwort ist unzweideutig: Nie und nie und niemals! Das ist das Osterzeugnis der Schrift des Alten Testaments – wir bräuchten für Ostern keine einzige Zeile des Neuen Testaments.

Und dass der, der an diesen Gott unbeirrt erinnert, als Störenfried empfunden und entsprechend behandelt werden wird bis zu seiner schieren Vernichtung – das ist auch schon Zeugnis der Schrift an den Stellen, an denen der Prophet Jesaja vom leidenden Gottesknecht redet. Das aber ist ein Zeugnis, das das erste Zeugnis nicht widerlegt, sondern bestätigt: Am Gerechten, der für seine Botschaft von diesem Gott sein Leben lässt, wird offenbar werden, dass Gott wirklich so ist, wie die ganze Schrift sagt: Eben der Treue, dem nicht einmal der Tod Paroli bieten kann. Darum musste der, der wie kein anderer zuvor unter Menschen für diesen Gott stand und sein Gleichnis war, erleiden, was er erlitt, um in seine Herrlichkeit zu gelangen, wie das Evangelium sagt - die Herrlichkeit, die darin besteht, dass an ihm, an seinem Schicksal, eben diese Unbedingtheit der Treue Gottes offenbar wird, die genau darin besteht, dass sie sich als mächtiger erweist als das Unbedingteste in der Welt, also der Tod.

V
Die Emmaus-Jünger stehen vor dieser Pforte, berühren sie gleichsam mit der eigenen Stirn schon – und wissen es nicht. Wie blind sind sie für die Logik dieser Geschichte Gottes mit den Menschen, die doch so punktgenau darauf hinausläuft, dass – wenn es den Gott, von dem da die Rede ist, wirklich gibt –, dass dann alles, nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben ein Vorletztes ist, und ihm, diesem Gott das letzte Wort bleibt und darum der, der so untrennbar zu ihm gehört wie dieser Jesus gar nicht tot sein kann. Dennoch: Mit allem vertraut. Buchstäblich Auge in Auge mit der Wahrheit. Und doch nichts begriffen.

VI
Und dann die Szene in der Bleibe unterwegs. Er bricht das Brot. Da gehen ihnen die Augen auf - und im gleichen Augenblick sahen sie ihn nicht mehr. Da tut sich ihnen jene Pforte auf, die sie aus Eigenem nach des Dichters Worten hätten hundert Jahre suchen können, ohne sie je zu finden.

Das ist so ähnlich wie in der Schlussszene einer ganz frühen Novelle Julien Greens, die den Titel Die Schlüssel des Todes trägt: Ein Junge geht in strömendem Regen zwischen seiner Mutter und einem Bekannten auf den Friedhof, wo seine Cousine, mit der er aufgewachsen und die soeben einer Krankheit erlegen war, beerdigt wird. Er bewegt sich, ohne zu wissen, woher er die Kraft zum Gehen nimmt: Ich wollte nicht sehen, so lässt Green ihn erzählen, – ich wollte nicht sehen, wie die Männer den Sarg in die Grube hinunter ließen, und als ich an den Rand des Grabes trat, um nach meiner Mutter […] Erde hinab zu werfen, kam es mir so tief vor, dass mir einen Augenblick schwindelte und ich die Augen schloss. Dann musste ich mich zusammennehmen, um wegzugehen, denn das große Kruzifix auf dem Sargdeckel zog meine Blicke an, und mir war, als könnte ich nie wieder die Augen abwenden von diesem Gott, der uns die Arme entgegenstreckt aus den Gräbern der Christen.

Ein solch lautloser Umschwung bis ins Mark hinab geschieht auch in der Emmausszene. Sie ist so dicht, dass man sie Zug um Zug entfalten muss. Klar natürlich, dass das Erkennungszeichen, das Brotbrechen auf das Abendmahl anspielt. Und Abendmahl ist nichts anderes als das Inbild dessen, was Liebe meint – so sehr, dass ausgerechnet Johannes, der sozusagen theologischste der vier Evangelisten, auf die Einsetzungsszene mit dem Brot- und dem Kelchwort verzichtet und stattdessen nur die Fußwaschung erzählt. Was heißt „nur“! Die Fußwaschung – das Füreinander-Dienst-tun – ist ja die Mitte, die Substanz der Eucharistie – Liebe eben. Und jedes Feiern dieser Eucharistie, der Messe, ist Erinnerung, Verlebendigung, Vergegenwärtigung dessen, auf dass die Liebe wirklich werde und stark. Unser Emmausevangelium bindet darum die Erfahrung der selbst den Tod besiegenden Treue Gottes – also Ostern – an das Tun der Liebe und sagt damit: Wo Menschen füreinander da sind bis zum niedersten Dienst, werden sie einander zum Gleichnis der Unvergänglichkeit, die aus Gottes Treue kommt. Wo geliebt wird, geschieht Österliches.

Dass die Emmausjünger in dem Augenblick, da sie in dem Unbekannten den Auferstandenen erkannten, ihn nicht mehr sahen, bringt genau dieses Gleichnishafte zum Ausdruck. Man kann Ostern so wenig festhalten wie Liebe. Und doch ist es so unbezwingbar wirklich, wie diese – die Liebe – wirklich ist. Getane Liebe weiß darum, dass Ostern wahr ist. Jedes Mal, wenn wir Messe feiern, tut sich die Pforte auf, die unser menschliches Suchen allein niemals würde finden können.