Doppelbewegung

Christi Himmelfahrt: Apg 1, 1-11 + Mt 28, 16-29

I
Am 40. Tag nach der Osternacht feiern wir Christ Himmelfahrt. Vierzig meint in der Bibel immer so viel wie ganz, vollständig, endgültig. Wir dürfen gewiss sein, dass die Zahl der Tage dem Echo des Ostermorgens im Glauben der Jünger entstammt, nicht der Abzählung von Kalenderfristen. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen: Was geschah, gehorcht ganz und gar dem Rhythmus, in dem das Heilige, das Göttliche seit Abraham geschieht. Es fügt sich ein in die Kette all der Geschehnisse, an denen Israel seit Anfang ahnt und lernt, dass Gott ihm nahe ist. Und weil das, was Jesus sagte und tat und wie er war, so ganz und gar zu diesem Gott passte und manchmal auf sprachlos machende Weise bestätigte und bis zum Grund aufschloss, was die Alten von diesem Gott erzählten, darum konnte sein eigenes Schicksal, sein Sterben um dieses Gottes willen, diesem Gott selbst nicht fern sein. Ja, dieser Jesus musste regelrecht in diesen Gott hinein gestorben sein – und eben darum konnte er gar nicht tot sein, wenn denn Gott wirklich Gott ist: nämlich der, durch den alles ist und ohne den nichts sein und begriffen werden kann. Und eben deshalb kommt am 40. Tag nach Ostern zur Gänze heraus, was Ostern bedeutet: ein Fortgehen, das in einem Dableiben besteht.

II
Fortgehen, das im Dableiben besteht – das ist nicht so einfach zu begreifen. Auch für die Jünger Jesu gilt zunächst, was Hans Carossa einmal ganz aufs Irdische bezogen in einfachen Worten so gesagt hat:
Was einer ist, was einer war
Beim Scheiden wird es offenbar.
Wir hörens nicht, wenn Gottes Weise summt,
Wir schaudern erst, wenn sie verstummt.
Etwas davon klingt auch an in den ersten Versen der Apostelgeschichte aus der Lesung vorhin. Jesus ist nicht mehr da, ihren Augen entzogen von einer Wolke, also eingegangen in das alte Sinnbild des alles Begreifen übersteigenden Gottes – und sie schauen, vielleicht muss man sagen: sie starren, unverwandt zum Himmel empor. Bis sie die Männer in weißen Gewändern, also Engel, d.h. Gottes Wink, seine Eingebung, buchstäblich vom Himmel losreißt und auf den Boden zurückholt: „Ihr Männer von Galiliä“ werden sie bezeichnender Weise angesprochen und so an ihre irdische Herkunft und Heimat erinnert.

Durch diesen Satz des Evangeliums aber passiert etwas ganz Eigenartiges. Man könnte es so sagen: Während die Richtung der Botschaft, des Erzählten nach oben weist und eine Aufstiegsgeschichte darstellt, deutet die Dimension der Unterweisung in diesen Worten, der Ruf zum Handeln, genau andersherum nach unten und macht dieselben Worte zu einer Abstiegsgeschichte - bezeichnender Weise sagt das Evangelium ja, dass die Himmelfahrt auf einem Berg geschah. Der aufsteigende Weg Jesu zum Vater und der absteigende Weg der Jünger nach Galiläa machen gemeinsam das Geheimnis der Himmelfahrt aus.

III
Es gibt eine ganz eigenartige Geschichte aus der Tradition der Ostkirche, die genau diese Doppelbewegung nach oben und unten zugleich versinnbildet. Der frühere Jesuitengeneral Peter-Hans Kolvenbach hat sie vor einigen Jahren im Westen bekannt gemacht. Und nicht zufällig wohl hat sie Papst Benedikt XVI. in seinem Jesus-Buch weitererzählt. Die Geschichte handelt von einem orthodoxen Starez, einem frommen Gottsucher, der die Gewohnheit hatte, seine Schüler das Vaterunser immer beim letzten Wort anstimmen zu lassen, damit man würdig werde, das Gebet mit den Anfangsworten – Pater hemon, Unser Vater – zu beenden. Befragt, wie er denn auf diese ausgefallene Idee komme, sagte der Starez: Weil wir so im Beten unseres wichtigsten Gebetes den österlichen Weg gehen: Man beginnt in der Wüste bei der Versuchung, man kehrt zurück nach Ägypten, schreitet dann auf dem Exodus durch die Stationen der Vergebung und des Mannas Gottes und gelangt durch den Willen Gottes in das Land seiner Verheißung, das Gottesreich, wo er uns das Geheimnis seines Namens mitteilt: Unser Vater.

Da wird also das ganze Ostergeschehen in seinen alttestamentlichen Vorausbildern, wie sie alle in den Lesungen der Osternacht intoniert werden, in das christliche Grundgebet hineingespiegelt: Am Anfang steht die Versuchung, die Israel in das Sklavenhaus Ägyptens geführt hat, dann kommt der Exodus mit seinen Krisen, den Aufständen Israels gegen seinen Gott, seinen Ausbrüchen von Misstrauen, auf die dieser Gott immer und immer wieder noch einmal mit Akten der Vergebung und nicht zu beirrender, überschwänglicher Güte reagiert – wie etwa in der Gabe des Manna. Und so gelangt das Volk durch den Willen Gottes in das gelobte Land, das Reich der Himmel, um mit dem Größten beschenkt zu werden, was Gott zu geben hat: dem Geheimnis seines Namens, will sagen: mit dem Innersten seines Wesens: dem unverrückbaren Ich-bin-der-ich-bin-da-für-Dich.

Man muss diese höchst ungewohnte Sicht auf das Vaterunser buchstäblich im Rückwärtsbeten ausprobieren, um in diese geistliche Lektüre des Starez hineinzufinden:
Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.
Dein Reich komme.
Geheiligt werde dein Name!
Unser Vater in den Himmeln!

Eine einzige Bewegung nach oben! Reines Aufstiegsgebet, das in dem Jubelruf „Unser Vater“ gipfelt, dem Jubelruf der Heimgekommenen – man muss unwillkürlich an das Gleichnis vom barmherzigen Vater denken. Bezogen auf den Ersten, der wieder ganz heimkommt aus den Verließen der Sünde, weil er dort die Sünder suchte, um sie herauszuführen, ist das auch der Osterdank aus dem Mund des Auferstanden: Lieber Vater, jetzt bin ich wieder bei dir und die, die du mir anvertraut hast, sie kommen auch. Von rückwärts gebetet entpuppt sich das Vaterunser als Brevier der Heilsgeschichte, wie sie sich im Geschick Jesus verdichtet wiederholt und vollendet. Das Vaterunser von hinten ist ein Himmelfahrtsgebet.

IV
Von daher fällt jetzt auch noch Licht auf einen Zusammenhang, über den sich vermutlich kaum jemand von uns in der Regel Gedanken macht: die Frage, warum wir das Vaterunser gerade an der Stelle der Eucharistiefeier beten, wo es liturgisch steht – am Beginn der Kommunionfeier. Ganz einfach: Wir beten es dort, weil es zugleich ein Abstiegsgebet ist. Zuvor mit dem Beginn der Hochgebetes sind wir nämlich schon mit hinaufgestiegen: Der Herr sei mit Euch … Erhebet die Herzen: wörtlich Sursum corda – hinauf die Herzen! – Wir haben sie beim Herrn. – Lasset uns danken dem Herrn, unserm Gott. – Das ist würdig und recht! In diesem hymnischen Dialog geben wir uns buchstäblich hinein in die Bewegung der Himmelfahrt, lassen wir uns mitnehmen in die Vollendung, in jene, die uns jetzt schon zur irdischen Lebzeit offen steht: die Wandlung in der Heiligen Messe, wo mit der Anrufung des Geistes jene Neuschöpfung in den Gaben von Brot und Wein beginnt, die sich fortsetzt in der Verwandlung unser selbst zu neuen Menschen, die Gott entsprechen – bis einmal alles in Gott und Gott alles in allem sein wird. Darum ist das Geschehen der Wandlung so etwas wie der höchste Punkt, an dem das Kreatürliche rühren kann. Und dann beten wir das Vaterunser als Abstiegsgebet von dieser Gotteshöhe, diesem Berg der Himmelfahrt hinab in das Galiliä unseres Werktags: So bewegen wir uns dorthin, wo sich nun die Verwandlung, die uns oben auf der geistlichen Höhe in die Seele gesenkt wurde, im buchstäblichen Sinn verwirklichen und bewahrheiten will in einem gewandelten menschlichen Miteinander. Deswegen mündet das Vaterunser in die Kommunion: das gemeinsame Teilen der heiligen Gaben, das die Communio, also die Gemeinschaft stiftet und versinnbildet, das Zueinander und Miteinander, in dem einer um die andere Sorge trägt und eine dem andern zugetan ist und niemand vergessen wird. Und aus diesem menschlichen Zusammenstehen wächst die Communio Sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen, jener Kreis der Zeugen, die den Auferstandenen und zum Vater Gegangenen verkörpern – so sehr, dass sie sich als sein österlicher Leib verstehen und fühlen dürfen.

V
Aus eben dieser Erfahrung stammt der Satz, mit dem unser Evangelium von heute und das Matthäusevangelium insgesamt schließt, und dessen sich der Evangelist so gewiss war, dass er ihn samt dem Taufbefehl, der ja seiner reflektierten theologischen Sprache nach aus dem gottesdienstlichen Leben der frühen Kirche stammt, dem österlichen Jesus selber in den Mund legt: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt. So wird den Glaubenden ein unwiderrufliches Geborgensein und Beheimatetsein in Gott zugesprochen – und das besiegelt nichts anderes als jenen Vers aus dem ersten Kapitel des Evangeliums, aus der Kindheitsgeschichte Jesu, wo der Engel als ersten Titel des von ihm angekündigten Kindes den Namen „Immanuel“ nennt: Gott mit uns.

Wir in ihm – Gott – und er in uns: durch ihn und mit ihm und in ihm, dem Christus. Das ist der Knotenpunkt jener Doppelbewegung nach oben und unten, die das heutige Festgeheimnis durchzieht. Und von ihm her schließt sich auch auf, dass kein frommes Gerede, sondern bewegende Wahrheit ist, was ein unbekannter Beter einmal niedergeschrieben hat: dass Christus keine Hände habe als nur unsere, um seine Arbeit zu tun, keine Füße als die unseren, um Menschen auf seinen Weg zu führen, keine Lippen als die unseren, um Menschen von ihm zu erzählen. Dass wir die einzige Bibel seien, die die Welt noch lese, Gottes letzte Botschaft, geschrieben in Tat und Wort. Das ist wahrlich nicht klein gedacht von uns! Aber wessen Seele etwas von Himmelfahrt weiß, kann nicht kleiner denken von sich.