Der Anfang

3. Sonntag A: Mt 4,12-23

I
Schon zu Zeiten, als es die UdSSR noch gab, galt Radio Eriwan als unerschöpfliche Quelle der Belustigung. Daran hat sich auch durch die nachfolgenden Umstürze nichts geändert. In dem jetzt so heißenden armenischen Staatssender gab neulich eine Moderatorin auf die Frage eines jungen Hörers nach dem Unterschied zwischen Kommunismus und Kapitalismus zur Antwort: Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus. Im Kommunismus ist es umgekehrt.

II
Im ersten Moment mag diese Antwort zum Lachen sein. In Wirklichkeit ist sie fürchterlich. Denn sie behauptet: Alles bleibt immer gleich, wie immer es drehe und wende, wer will. Und dieses Gleiche besteht darin, dass der Mensch dem Menschen das Leben zur Hölle macht. Unausweichlich, jeder jedem und alle immer. Unser christlicher Glaube fängt mit der Überzeugung an, dass es anders ist.

III
Das hat nichts mit Schwärmerei zu tun. Das Erste, was von Jesus nach seiner Taufe an öffentlich Wahrnehmbarem erzählt wird ist, dass er sich nach der Verhaftung des Täufers Johannes nach Galiläa zurückzog. Galiläa war so etwas wie das Glasscherbenviertel des damaligen Israels, jedenfalls alles andere als der Ort, von dem man erwartet hätte, dass sich Großes täte an ihm.
Aber genau dort fängt Jesus seine öffentliche Tätigkeit an. Dieser Anfang ist so einfach, wie wohl die Leute einfach waren, an die Jesus seine Botschaft richtete. Sie besteht aus genau zwei Sätzen, erzählt Matthäus: Einer Aufforderung und der Begründung dafür: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. An diesem „denn“ hängt es.
Der Himmel – damit meinten die Juden: Gott bestimmt die Dinge wieder. Und mit dem „nahe“ meinte Jesus sich selbst. Wie er ist und was er tut, bringt Himmel und Erde, Gott und Mensch ins Lot. Nicht mehr die gegenseitig bereitete Hölle beherrscht alles, das Chaos, das Durcheinander, sondern Gott. In Jesus fängt dieses Neue an, das Gottesreich. Wer das wahrnimmt und ernst nimmt, kann gar nicht anders, als die Begegnung mit diesem Jesus als Ruf zur Umkehr erleben. Was ist Umkehr?
Umkehr hat nichts mit Zusammenreißen und nichts mit Leistung zu tun. Bloßes Frommsein scheidet sowieso aus. Das Evangelium macht Umkehr an den Geschichten klar, mit denen es erzählt, wie die ersten Jünger zu Jesus gekommen sind:
Die ersten sind – so erzählt Matthäus – Simon und Andreas. Sie werden mitten in ihrem Werktag angesprochen – sie warfen gerade ihr Netz in den See, weil sie Fischer waren. Der Ruf zum Christwerden hat von allem Anfang an etwas Unerwartetes an sich. Und das Angesprochensein reicht schon dafür. Die Geschichte mit dem zweiten Brüderpaar bestätigt das – und verrät zugleich vom Geheimnis des Christwerdens noch Tieferes als die Begegnung mit Simon und Andreas: „… sie verließen das Boot und ihren Vater…“ – zum Betreten des Gottesreiches gehört – scheint’s – der Abschied von dem, was einer bislang für tragend hielt im Leben: vom Fischerboot auf dem See Gennesaret, das die Jünger ja genährt hatte und das eigentlich als Sinnbild dafür steht, wie der Mensch sich zu halten sucht auf dem See, dem Meer des Lebens und über seinen Abgründen. Und der Abschied vom Vater deutet an, dass zum Betreten des Gottesreiches auch das Heraustreten aus den natürlichen menschlichen Bindungen gehört, in denen sich jede und jeder bewegt.

IV
Es ist eben dies wohl auch immer die erste Ahnung von der Wirklichkeit des Gottesreiches, dass einer auf einmal merkt: Woher ich komme, wo ich stehe, was ich tue, habe und kann, ist nicht alles im Leben. Bei vielen Menschen bleibt es bei dieser dunklen Ahnung, andere schütten sie wieder zu, drängen sie weg auf alle erdenkliche Weise. Sie begnügen sich mit dem, was ist, suchen gar zu perfektionieren, was sie sind und gelten – und geraten eben dabei nicht selten in jenes Gegenteil des Gottesreiches, das sie das eigene Dasein und die ganze Welt als Teufelskreis erleben lässt, eine Tretmühle, von der bloß noch nicht klar ist, wie lange sie einer aushält. Teufel heißt griechisch „diabolos“, Durcheinanderwerfer. Ein solches Leben – die Hölle. Ihr aktuelles Format, scheint mir ist, ist die kollektive Depressivität, die in der Gegenwartsgesellschaft unserer Breitengrade grassiert und für viele nur noch mit Psychopharmaka und Rauschmitteln zum Aushalten ist.
Andere dagegen spüren dieser Ahnung nach, dass da mehr ist, entdecken eines Tages, dass diese Ahnung durch Jesus eine Antwort, gleichsam ein Gesicht erhält. Darum vertrauen sie sich ihm an. Sie gehen seinen Weg mit. „Nachfolge“ sagt das Evangelium dafür und meint damit: Wer an der Seite Jesu geht und bleibt, findet das Gottesreich. Wann bin ich das letzte Mal in meinem Leben vor der großen Weggabelung gestanden, an der sich die Wege in die innere Unordnung und ins Gottesreich trennen? Wohin habe ich mich dann aufgemacht? Ich könnte umkehren, wenn ich falsch gegangen bin.

V
Hört man auf das heutige Evangelium ein bisschen genauer hin, dann fällt einem auf, dass Matthäus die ganze Geschichte in der Vergangenheit erzählt und sie dabei in einen größeren Rahmen gestellt hat. So macht er klar, dass dieser Ruf zur Nachfolge gleichsam von weit her kommt, in eine lange Geschichte hinein gehört. Um das wahrzunehmen, muss man bei diesem Evangelium gerade auch auf das achten, was nebensächlich scheint. Das gilt besonders von den vielen Orts- und Ländernamen, die da fallen. Der ganze Anfang des Matthäusevangeliums wird ja regelrecht von einem einzigen Wandern durchzogen: Nachdem Jesus geboren ist, kommen die Weisen von fern aus dem Osten. Wegen Herodes müssen Maria und Josef mit dem Kind nach Ägypten fliehen. Nach Herodes Tod wandern sie wieder nach Israel zurück, und weil es in Judäa immer noch gefährlich war, ziehen sie nach Nazaret. Später zieht Jesus aus Nazaret an den Jordan zum Täufer Johannes. Und als der verhaftet wurde, so hörten wir vorhin, geht er nach Galiläa zurück, verlässt dort aber Nazareth und zieht nach Kafarnaum. Und alle diese Wanderungen erklärt Matthäus zu Erfüllungen dessen, was die alten Propheten schon längst verheißen haben. Damit will er sagen: Hinter allem Hin und Her steht Gott selbst. Und das „Jetzt“ jetzt ist kein Zufall, sondern ein gottgegebener Glücksfall, ein Kairos. Er, Gott selbst, hat Jesus an den Punkt geführt, an dem er nun steht, und von diesem Punkt aus wird er in Angriff nehmen, was ihm aufgetragen ist.
Und was ist ihm aufgetragen? Das sagt Matthäus erneut mit einem Zitat aus dem Propheten Jesaja: Das Volk, das im Dunkel lebte, hat ein helles Licht gesehen. Jesus ist gesandt, es denen, die sich trostlos und ohne Ausweg fühlen, hell zu machen, damit sie sich nicht mehr fürchten und dass sie weiterfinden mit dem Leben. Nicht zufällig nennt Matthäus die Gebiete, in denen die wohnen, zu denen Jesus kommt: das Land Sebulon und das Land Naftali, das riesige Gebiet, wo sich die berühmte Meer-Straße hinzieht im Westen, das Land jenseits des Jordan, also der Osten, und das heidnische Galiläa, also dort, wo die wohnen, die mit den Heiden zu tun haben, und darum selber verachtet waren. Das heißt soviel wie: In Jesus wendet sich Gott allen zu, links und rechts, oben und unten, und denen hinten oder draußen, den Abgeschriebenen auch. Ihnen allen gilt die Botschaft, die Jesus von Gott auszurichten hat. Und den Inhalt dieser Botschaft bringt Matthäus dann auf eben jenen einzigen Satz in Jesu Mund: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. Das ist die vorwegnehmende Zusammenfassung all dessen, was Jesus später im Evangelium verkünden wird, besonders in der gleich nachfolgenden Bergpredigt. Das Gottesreich ist unmittelbar nahe gekommen, d. h.: es fehlt nicht viel. Es fehlt deswegen nicht mehr viel, eigentlich gar nichts mehr, weil Jesus selbst diesen Anfang verkörpert. Genau das meinte der größte griechische Theologe der alten Kirche, Origenes, als er Jesus „Autobasileia“ nannte, „Selbst-Himmelsreich“ wörtlich, Gottesreich in Person, übersetzen wir. Schon nimmt dieses Gottesreich seinen Lauf. Jesus zieht umher und verkündet, was er von Gott zu sagen hat, in Wort und Tat. So heilt er, heißt es, alle Krankheiten und Leiden im Volk und bestätigt damit, was die Alten schon von Gott glaubten: dass er ihr Arzt sei, der die Wunden verbindet, die Schwächen heilt und alles austreibt, was das Leben niederdrückt.

VI
Autobasileia: Dadurch dass Jesus ist, wie er ist, wird er denen Licht, also Orientierung, zu denen er gesandt ist in ihrer Verfahrenheit. Sie brauchen sich ihm nur noch anzuschließen. Das meint das Umkehren, zu dem Jesus aufruft.
Und auch bemerkenswert: Ein einziger Satz am Ende dieses weiten Bogens der Gottesgeschichte steht, wenn man den griechischen Urtext nimmt, im sprachlichen Tempus der Gegenwart: „Da sagt er zu ihnen: Hierher, hinter mich! Also: Kommt her, folgt mir nach!“ Matthäus wollte damit sagen: Der Satz gilt immer. Also auch uns.