Vom Tröster

7. Ostersonntag: Ez 37,1-14 (vorgezogen vom Vorabend Pfingsten) + Joh 17,1-11a

I.
Die Tage jetzt zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten sind seit je Tage des Bittens um die Gabe des Heiligen Geistes. Die ganze Kirche tut das. Und sie darf es tun in der Gewissheit, dass diese Bitte erfüllt wird – ja dass sie es schon ist. In der geistlichen Innenschau des Evangelisten Johannes hören wir den erhöhten, aufgefahrenen Herrn im heutigen Evangelium sagen, dass er das Werk vollendet habe, das ihm vom Vater aufgetragen war. Ja noch kühner: Ich gab den Menschen die Worte, die du mir gegeben hast, sagt der Erhöhte, und sie haben sie angenommen. Sie haben wirklich erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie sind zu dem Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast. Sie haben Jesu Worte angenommen… Sie sind… zum Glauben gekommen. Das ist das Zeichen, dass der Geist in ihnen wirkt und da ist.

Wenn man diese Zeilen aus dem Evangelium hört, diese frohe Gemutheit in ihnen, muss man ja immer dazu denken, in welcher Situation der Evangelist sie formuliert hat: In einer Zeit der Bedrängnis, der Zeit, aus der ja auch die Offenbarung des Johannes, die Apokalypse stammt, und die Christengemeinde eine winzige Randgruppe war. Und trotzdem die Überzeugung: das Entscheidende, Gottes unwiderrufliche Zuwendung, ist geschehen. Nichts und niemand, Tod und Teufel nicht, kann sie aufheben. In Jesus und seinem Geschick ist – menschlich gesprochen – Gottes innerstes Verlangen, ja ist er selbst zur Ruhe gekommen, um in seinem Geist für immer bei uns zu weilen. Das ist das Befreiende am Evangelium – diese unumstößliche Gewissheit, für immer im Geist gehalten zu sein, solange wir ihm, der der Geist Jesu ist, in uns zu wirken Raum geben. Was das im Tiefsten bedeutet, kann aber wohl nur ermessen, wer zugleich ins Auge fasst, von woher – aus welcher notvollen Tiefe – diese Zuversicht emporwächst. Das wird ahnbar, wenn wir etwas auf die erste Lesung von heute hinhören.

II.
Wenn Menschen am Ende sind, wie man so sagt, fällt ihnen Unheimliches ein. Dem Dichter Friedrich Hebbel ging es einmal so: Alles misslang, Hoffnungen zerrannen, Freunde erwiesen sich als falsch. Krankheit  hinzu. Das ganze Leben ekelte ihn. Da schrieb er in sein Tagebuch den Satz: Eine Kanone erfinden müsste man, groß genug, die Erde hineinzuladen, um sie Gott ins Gesicht zu schießen. – Ein Bild, das einen erschüttert, wenn man es hört oder liest. Welche Verzweiflung muss es hervorgetrieben haben!

Etwas Ähnliches geschah einmal dem Propheten Ezechiel: Er war mit seinem Volk Israel in die babylonische Gefangenschaft gekommen. Durch ihre besserwisserischen Kungeleien und ihr Misstrauen gegen Gott hatten sie Heimatland, Königtum und ihr Heiligstes, den Tempel verspielt. Das hatte die Israeliten nicht nur gedemütigt. Im Exil fingen sie nach einiger Zeit an, alles, was ihnen lieb und teuer war, als endgültig verloren zu betrachten. Bleierne Resignation machte sich breit. Eines Tages verdichtete sich dem Propheten E-echiel dieses ganze Unglück im Bild einer Vision: Er schaut eine große Talebene mit lauter Totengebeinen, verdorrte Skelette, die Knochen zum Teil schon zerstreut. So wie es nach längerer Zeit auf einem Schlachtfeld aussieht, auf dem die Toten einfach liegen blieben, weil keiner mehr da war, der sie bestattet hätte. Ein einziges Inbild der Trostlosigkeit, nicht weniger beklemmend als dasjenige, in das Hebbel seine Verzweiflung fasste. So steht es um Israel, zersplittert und zerschlagen: Verdorrt sind unsere Gebeine, dahin ist unsere Hoffnung, es ist aus mit uns, so klagte das Volk in Babylon.

III.
Mitten in diese Vision der Not hinein hört sich der Prophet gefragt werden: Menschensohn, werden diese Gebeine wieder zum Leben zurückkehren? Und er antwortet darauf: Du, Gott, weißt es - und meint damit: Ich Mensch kann es mir nicht mehr vorstellen, dass die Not sich noch einmal wendet. Ezechiel gibt damit im Grund überhaupt keine Antwort, weil er weiß, dass er keine mehr geben kann. Die Dinge, wie sie stehen – so aussichtslos – sprechen für sich. Aber anders als Hebbel vorhin klammert er sich mit diesem "Du, Gott weißt es" noch an den, den er eigentlich nicht mehr versteht. Und eben darum gibt ihm Gott selbst eine Antwort auf die Frage, die er dem Propheten gestellt hatte. Er trägt ihm auf zu verkünden: Ihr dürren Gebeine, ich gebe euch Atem, dass ihr lebendig werdet! Unter diesem Gotteswort verwandelt sich Ezechiels Vision geradezu unfassbar: Die zerschlagenen Gebeine rücken zusammen, überziehen sich mit Fleisch und Sehnen, erheben sich zu einer ganzen Heerschar von Lebendigen, geradeso wie es etwa Signorelli in der Seitenkapelle der Kathedrale von Orvieto gemalt hat.

Gottes Schöpferwort, so lernt der Prophet aus dieser Vision, kommt auch dort nicht an eine Grenze, wo Menschen alle Zuversicht aufgeben. Sein Geist ist mächtiger als das Unwiderruflichste, das es im Leben geben kann, der Tod – und darum auch mächtiger als alles, was noch vor diesem Unwiderruflichsten im Leben geschehen mag.
Diese Einsicht des Glaubens ergreift den Propheten mit solcher Macht, dass sich in ihm gleich noch in ein zweites Bild formt: Er hört den Gott, der über diesen mächtigen Geist des Lebens verfügt, sagen: Siehe, ich öffne eure Gräber, und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraus, und bringe euch in das Land Israel, dorthin, wo ihr daheim seid.

Das ist zunächst ein Trostwort an Israel damals. Aber dahinter leuchtet schon etwas noch ganz Anderes auf: Nicht einmal der Tod, deutet Ezechiel an, ist das Ende eines Menschen, um wie viel weniger da, was einem zu Lebzeiten das Dasein zur Not macht: Leid nicht, Schicksal nicht, Trauer nicht, nicht einmal Schuld. Wirklich am Ende ist erst der, der keine Hoffnung mehr hat. Als Israel klagte: Verdorrt sind unsere Gebeine, dahin ist unsere Hoffnung, da war es tot, obwohl es noch lebte. Ezechiel darf Gottes Versprechen dagegenstellen, dass er einen Geist zu schenken hat, der auch das noch lebendig macht, was tot ist in Menschenaugen. Wo Menschen diesem Gott Ezechiels trauen, beseelt sie schon Hoffnung. Und in der fängt eben jener Geist an, sich als mächtig zu erweisen.

IV.
Aus dieser Hoffnung hat Israel gelebt, das Exil überwunden, einen neuen Anfang geschenkt bekommen. Als die Jünger den Karfreitag erlebten und dann zu ahnen begannen, dass Jesus sich auch noch mit seinem schlimmen Ende Gott anvertraute, weil er gewiss war, auch darin von Gott nicht verlassen zu sein und deshalb in Gott lebendig zu bleiben – da haben sie auch mit den Bildern des Ezechiel auszudeuten gesucht, was Ostern heißt: Es gibt kein Grab, das für immer verschlossen bleibt. Das unverfügliche, unbegreifliche Wirken Gottes – darum "Atem" und "Geist", die man nicht fassen kann –, greift tiefer als die tiefste Grube noch. Und wer sich so unbedingt dem Wirken Gottes aussetzte wie dieser Jesus, erfährt wie kein anderer dieses Lebendigsein, das von Gott kommt. Und das heißt auch: An dem, was ihm geschieht, erweist sich auf einmalige Weise der Gottesgeist. Darum gehört zu Ostern das Pfingstfest hinzu, das, wir bald feiern werden, als Abschluss und Vollendung des Ostermorgens.

Wer Christ wird, bekennt: Ich lebe auch schon in diesem Geist Gottes, der sich an Christus gezeigt hat. Und bin darauf gefasst, dass er einmal auch an mir das tut, was er an Christus getan hat: dass er mich lebendig macht auch dort noch, wo ich einmal vergangen sein werde. Aber auch, dass er mich jetzt tröstet, wenn ich zerschlagen bin. Die alte Pfingstsequenz fügt das alles zusammen und ist darum ein Bittlied aus Seufzern, deren Ränder schon den Goldrand des Jubels derer tragen, die der Zusage des Herrn zu trauen wagen:


Komm herab, o Heilger Geist,
der die finstre Nacht zerreißt,
strahle Licht in diese Welt!

Komm, der alle Armen liebt,
komm, der gute Gaben gibt,
komm, der jedes Herz erhellt!

Höchster Tröster in der Zeit,
Geist, der Herz und Sinn erfreut,
köstlich Labsal in der Not!

In der Unrast schenkst du Ruh,
hauchst in Hitze Kühlung zu,
spendest Trost in Leid und Tod.

Komm, o du glückselig Licht,
fülle Herz und Angesicht,
dring bis auf der Seele Grund!

Ohne dein lebendig Wehn,
kann im Menschen nichts bestehn,
kann nichts heil sein noch gesund.

Was befleckt ist, wasche rein,
Dürrem gieße Leben ein,
heile du, wo Krankheit quält!

Wärme du, was kalt und hart,
löse, was in sich erstarrt,
lenke, was den Weg verfehlt!

Gib dem Volk, das dir vertraut,
das auf deine Hilfe baut
deine Gaben zum Geleit!

Lass es in der Zeit bestehn,
deines Heils Vollendung sehn
und der Freuden Ewigkeit!
Amen. Halleluja.