Groß genug denken

1. Adventsonntag A: Mt 24,29-44



I .
Etwas seltsam ist es schon: Wir fangen heute mit dem Kirchenjahr neu an. Und zugleich hören wir als erstes Evangelium ein Stück Endzeitrede, apokalyptische Töne von einer kosmischen Katastrophe, der Wiederkunft einer rätselhaften Gestalt namens Menschensohn, die die junge Gemeinde von Anfang an auf Christus hin deutet, Gleichnisse, die aufrütteln, verunsichern, von Scheidung zwischen den einen und den anderen sprechen. Alles doch, wenn man es denn ernst nimmt, eher Kunde von Bedrückend-Beklemmendem. Und ist das Evangelium, gute Nachricht? Ist es das, was die Kirche zu sagen, auch heute zu sagen hat - und was uns angeht?


II.
So haben nicht erst spätere, so haben schon die ersten Gemeinden gefragt wenige Jahre nach Ostern. Und die Glaubenszeugen der ersten Stunde und dann die, die ihre Predigt niederschrieben, die Evangelisten, waren überzeugt: Zu Jesu Botschaft vom Gottesreich gehört auch dieses Reden von einem Ende aller Welt und Zeit. Das, was bisher war und jetzt besteht, ist noch nicht alles gewesen. Was getan, gelassen, gelitten wird, hat ein letztes Ziel. Und das Maß dafür, ob etwas in dieses Ziel gelangt, ist der gottgesandte und gottbeglaubigte Menschensohn, jener Jesus von Nazaret, den sie den Christus nennen und der – österlich über Zeit und Ewigkeit stehend –  alles, was ihm entspricht, sammeln und einbergen wird, vom einen Ende des Himmels bis zum anderen – also so, dass nichts und niemand vergessen wird dabei.   Man kann es drehen und wenden, wie man will: Dieser Endzeitgedanke kann in keiner Weise entschärft, als mythisches Relikt abgetan, als Autosuggestion verfolgter Diasporagläubiger historisiert werden. Er gehört zur Mitte der jesuanischen Predigt. Jede Zeit muss ihr Verhältnis zu dieser Endzeitrede finden. Manchmal gab es Epochen, denen war diese Botschaft so nahe, ihrem Empfinden derart auf den Leib geschrieben, dass sie das Ende herbeisehnten, herbeiflehten und manchmal dazu übergingen, mit eigenen Mitteln nachzuhelfen, nicht nur hier in Münster bekanntlich vor etlichen Generationen. Und was heißt: Es gab solche Epochen! Die Konjunktur einer vierzehnbändigen Endzeitstory aus Fundamentalistenfeder, die momentan mit einer Millionenauflage den ganzen us-amerikanischen Buchmarkt aufmischt und alles Nicht-Evangelikale in einem bald erwarteten Feuersturm untergehen lässt und Bischöfe mittlerweile warnen lässt, gehört auch hierher. Anderswo dagegen scheint diesem Stück Evangelium, das vom Ende redet, jedes Ohr verbarrikadiert; vielleicht gehört dazu derzeit auch unsere alteuropäische Lebenswelt.


III.
Mir scheint, dass beide Seiten etwas Entscheidendes übersehen und darum auch verspielen: Die einen, die fanatischen Apokalyptiker, überhören das zweifelsfrei Heilvolle, das in diesem Evangelium aufklingt: Schon jene vorhin erwähnte endzeitliche Sammlung, die keinen vergessen wird, gehört dazu. Und noch mehr die doch einigermaßen überraschende Rede vom Feigenbaum mitten in dieser Endzeitpredigt. Denn dieses kleines Gleichnis redet nicht von Herbst, Tod und Ende, sondern von treibenden Zweigen und jungen Blättern, die vom nahenden Sommer künden, von etwas Frischem also, von neuem Leben. Das ist das Vorzeichen, unter dem das Bisherige erschüttert wird.   Und denen wiederum, die taub sind für Jesu Endzeitpredigt, entgeht, dass sich für den Glauben die Welt nicht auf das beschränkt, was der Fall ist. Dass alles Geschaffene eine Zukunft hat, die nicht darin bestehen wird, dass alles bleibt, wie es ist. Das wäre zum einen mindestens so fatal wie ein apokalyptischer Feuersturm, der alles wegbrennt. Und zum anderen dächte, wer auf solches Beharren von allem hoffte, viel zu klein vom Menschen – also ob das, was wir haben, machen und lenken können, dem Sehnen unserer Seelen genügen könnte! Denker und Dichtende aller Zeiten wussten eben darum. Vielleicht ist gut, wenn wir uns das manchmal wieder in unser eingefleischtes Status-quo-Denken hineinsagen lassen.   Auf beeindruckende, weil ganz unverstellte Weise hat das vor langer Zeit auch einmal Stefan Andres getan. Andres, heute wenig gelesen, war Mitte des 20. Jahrhunderts einer der anerkannten deutschen Literaten. 1962 kam die Schulklasse einer gymnasialen Oberstufe, wie das damals hieß, auf die Idee, zeitgenössische Schriftsteller anzuschreiben und um Antwort zu bitten, was denn für sie der Sinn des Lebens sei. Andres gehörte zu denen, die den Fragern antworteten. Vor wenigen Monaten hat man seine Antwort im Nachlass derjenigen Schülerin gefunden, deren Aufgabe es gewesen war, sich an ihn zu wenden. Andres hatte ihr sogar in Versen geantwortet:

Trink weiter, du, der an den Sternen nimmt
des Lebens Maß, die Arme breite weit
Und spür in deines Durstes Herrlichkeit
die Herkunft, die zu keinem Maße stimmt
als zu der goldnen Traube über dir
In deiner Nächte dunkelstem Spalier.  

An den Sternen Maß nehmen für das Leben – am Ewigen; am eigenen Durst, der von nichts, was man in der Hand haben kann, gestillt wird, ahnen, wo man herkommt – aus dem Ewigen, an das auch noch in der Kette der Dunkelheiten, als die unser Leben manchmal erscheint, die goldene Traube erinnert, geheimnisvolle Reminizenz an den gottgeschenkten Schöpfungsgarten, dessen Vollendung sogar noch die Wunder seines Anfangs überbieten wird. So klingt adventliche Sprache von innen, die zu einer Erwartung ruft, die sich nicht mit zu Kleinem bescheidet, ohne deswegen in eine Art geistlichen Alarmismus zu verfallen. Advent von innen sozusagen.   Als ich diese Zeilen von Stefan Andres fand, musste ich mich an eine Begebenheit meiner römischen Studienzeit erinnern, über die wir damals viel gelacht haben: Andres verbrachte seinen Lebensabend in Rom. Begraben liegt er auf dem Campo Santo Teutonico, dem kleinen deutschen Friedhof im Vatikan, gleich links vom Glockenturm des Petersdomes. Ich wohnte ein paar Jahre im Kolleg, das an den Friedhof anschließt. Frau Andres kam oft zu unserem Gottesdienst und besuchte das Grab ihres Mannes. Dabei erzählte sie uns Studenten einmal, dass ihr Mann das Grab schon erworben hatte, als er noch rüstig und gesund war – und dass er, weil sie gleich ums Eck wohnten, seine künftige kleine Grablege einstweilen als Lagerstätte für seinen geliebten Wein genutzt hatte, ohne dass ihm das frivol vorgekommen wäre.   Vielleicht fängt man tatsächlich erst an zu begreifen, was Advent eigentlich meint, wenn das Ende, das Überschreiten des Irdischen und die Freude in eines Menschen Seele keinen Widerspruch mehr bilden, ohne dass er darum das Ende herbeisehnen und von der Freude alles Irdische fernhalten müsste. Weil Gott alles in Händen hält und immer noch einmal mehr für uns übrig hat, als wir uns ausdenken können.


IV.
Dieses Geheimnis des Advent begegnet aber nicht nur im kleinen Geviert individuellen Lebens, seines Hoffens und Erwartens. Es macht sich immer wieder auch im Größeren menschlicher Geschichte geltend. Gerade Christen und genauso ihre älteren Glaubensgeschwister im Judentum haben bestimmte Erfahrungen der eigenen Glaubensgeschichte immer wieder in diesem adventlichen Hoffnungslicht gelesen und dann auch als Verheißung für das große Ganze von Welt und Zeit verstanden. Auf dramatische Weise verkörpert das eine Episode aus der frühjüdischen Geschichte, die zeitlich kurz vor der Niederschrift unseres Evangeliums passiert sein dürfte, nämlich in den Tagen der Belagerung Jerusalems durch die Römer, an deren Ende die Zerstörung des Tempels stand, von der die Adressaten des Mattäusevangeliums schon wissen, weshalb sie darüber nachdenken, ob denn der Fall der heiligen Stadt Zeichen für das Weltende ist.   In dieser Situation gab es zwischen den in der belagerten Stadt Eingeschlossenen heftige Debatten, was zu tun sei: Ob man das schnelle Ende gezielt suchen sollte, einen finalen Crash gleichsam - so die Partei der Zeloten –, oder ob man auf irgendeine Weise wagen sollte, auf ein Weitergehen und Bleiben von Gottes Gegenwart mitten in dieser Feindeswelt zu setzen und nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen – so die Gegenpartei. Eines Tages kommt die Kunde herum, Rabbi Jochanan ben Sakkai, eine der größten Schriftgelehrten der Stadt, sei gestorben. Man bittet die Römer, draußen vor der Stadt den Toten begraben zu dürfen und zu beten. Der Bitte wird wegen Sorge vor einer Epidemie statt gegeben. Der Sarg wird hinausgetragen – in ihm liegt der lebende Jochanan, wegen der Zeloten für tot erklärt, weil die keinen der ihren lebendig aus der Stadt hatten lassen wollen. Jochanan kann fliehen und gründet in der Ferne ein Lehrhaus. Der Tempel geht unter. Aber von jenem Lehrhaus nimmt die neue jüdische Überlieferungskultur des Talmud ihren Ausgang, die gläubige Juden bis heute mit ihrem Ursprung verbindet. Alles Vertraute war zusammengebrochen, aber mitten darin konnte ein Neuanfang einwurzeln, der trägt bis heute.


V.
Vielleicht treten wir Christinnen und Christen im alten Europa gerade derzeit in eine vergleichbare Situation ein: die so lange ungebrochenen Selbstverständlichkeiten der Volkskirche, der öffentlichen Präsenz der kirchlichen Stimmen und Zeichen schwindet, Gemeinden werden kleiner, der politische Gegenwind nimmt zu. Und? Nichts, was faktisch einmal geworden ist, wie es ist, hat so werden müssen, wie es wurde. Selbstverständliches kann auch zu Abstumpfung führen. Wahrscheinlich liegen vor uns mittelfristig ein paar Nadelöhre, nicht nur ein finanzielles und das des Priestermangels. Vielleicht muss auch die Kirche wie eine Tote aus den alten Mauern getragen werden, um einen überraschenden Neubeginn zu erleben. Wir wissen das nicht. Wir müssen es auch nicht wissen. Es genügt, wenn wir Gott Treue zutrauen, aus den kleinen Münzen schöpferischer Zuversicht, die wir aufbringen, einen Schatz für uns und unsere Welt zu schaffen, bis einmal alles in ihm sein endgültiges Ziel gefunden haben wird. Auch das ist Advent.


VI.
Und einleuchten mag jetzt vielleicht auch, warum wir am 1. Advent mit einem Endzeitevangelium anfangen: Weil uns darin –  wie in einer ordentlichen Symphonie oder Oper durch die Ouvertüre – schon intoniert wird, worauf alles einmal hinauswill. Und wer vorhin von Andres' Zeilen mit der goldenen Traube von fern auch an die Eucharistie erinnert worden wäre, hätte nicht falsch gelegen. Denn unsere Antwort auf den Ruf "Geheimnis des Glaubens", mit der wir bei jedem Herrenmahl versprechen, Ostern bis zur Wiederkunft Christi zu verkünden, ist unser ältestes Adventslied.