Warum Christen ein Sterben feiern

Karfreitag A: Leidensgeschichte

Das vierfach-eine Geheimnis

Wir feiern Ostern, den Ursprung und die Mitte unseres Glaubens. Vierfach ausgefaltet begehen wir das eine Geheimnis. Gestern am Gründonnerstag das Abschiedsmahl Jesu, heute am Karfreitag sein Leiden und Sterben, morgen einen Tag der Stille im Gedenken an die Grabesruhe des Herrn. Und am Sonntag zur Stunde, da sich der erste Schimmer des Morgenlichts zeigt, werden wir das Osterfeuer entzünden und den Auferstandenen preisen.

Leiden und Sterben feiern?

Dass der Ostermorgen Grund zu Fest und Freude gibt, versteht sich von selbst. Aber wie ist das mit heute? In den Büchern für den Gottesdienst steht über diesem Tag die Überschrift "Die Feier vom Leiden und Sterben Christi". Was aber bedeutet das – feiern, dass einer gelitten hat und gestorben ist? Widersinn ist das nur dann nicht, wenn der Karfreitag nicht bloß ein notwendiges Übel und ein Durchgangsstadium zum Ostersonntag hin war. Wenn uns das Sterben Jesu für sich etwas zu sagen hat, was so bedeutsam ist , dass man es feiern muss. Was also hat uns der Tote am Kreuz mitzuteilen?

Gottes und des Menschen Innerstes

Etwas über den Menschen und etwas über Gott hat er uns mitzuteilen. Und beides rührt ans Innerste des Menschen und Gottes auch. Wo immer man Spuren dieses doppelt Innersten begegnet – und es gibt solche Spuren mitten in der Welt -, werden sie wie ein undurchdringliches Rätsel empfunden.

Heiner Müller, einer der bedeutendsten Bühnenautoren deutscher Sprache im 20. Jahrhundert, wurde einmal in einem Interview gefragt, was er denn mit seinen oft verstörenden Stücken eigentlich bezwecke. – Vielleicht hinter allem Trug und Glimmer den Kern freilegen, auf den man etwas bauen kann, antwortete er. – Wie denn dieser Kern aussehe, bohrte der Interviewer weiter. – Darauf Müller: Mir fällt dazu nur etwas ganz Beiläufiges ein. Ich denke an die Geschichte jenes kleinen jüdischen Sportjournalisten, der mit einen der letzten Schiffe in Richtung USA davonkam im Zweiten Weltkrieg. Das Schiff wurde von einem deutschen U-Boot torpediert. Er war schon in einem Rettungsboot, das Boot war voll. Da wurde noch eine Mutter mit einem Kind hineingezogen, und es war kein Platz mehr. Aber er hat sich stumm nach hinten fallen lassen, und es war Platz für sie... Die Frage ist letztlich, ob man dazu fähig ist.

Das ist jenes Innerste, das sich beschreibenden Worten verweigert und allenfalls in Lebensgeschichten ahnbar wird wie der von dem jüdischen Sportreporter. Ein Mensch könnte sein eigenes Leben retten. Aber er verzichtet darauf zugunsten eines anderen. Keiner stirbt gern, schon gar nicht, wenn er das Durchkommen zum Greifen nahe hat. Und doch gab der Mann sich selber daran, damit andere durchkamen. Wie kommt ein Mensch dazu, so zu handeln? Im letzten wird es genau so viele Gründe dafür geben, wie es Menschen gibt, die so handeln. Weil jede und jeder gerade in einer solchen Situation unvertretbar und einsam auf sich selbst gestellt ist. Aber eines gehört immer dazu: Wer sein Leben für etwas oder jemand einsetzt, ja herzugeben sich entschließt, ist überzeugt, dass zum wirklichen Leben etwas gehört, was mehr bedeutet als dazusein in der Welt und mitzumachen.

Überschuss

Dieses Darüber hinaus über den eigenen Vorteil und über das Überleben hat schon immer viele Namen und Gestalten gehabt: Menschen sind gestorben für Ideen und Überzeugungen, für die Wahrheit, aus Liebe oder Mitgefühl. Aber sie konnten das nur, weil sie überzeugt waren oder zumindest spürten, dass das, wofür sie ihr Leben drangaben, über ihr eigenes Ende hinaus in Geltung bleibt und nicht zerstört werden kann.

Christen sind überzeugt, dass dieses rätselhafte Darüber hinaus durch das Sterben Jesu in seiner eigentlichen und ganzen Wirklichkeit offenkundig geworden ist. Jesus hat sein Leben einem einzigen Anliegen verschrieben: Menschen nahe zu bringen, dass ihr Leben durch und durch von Gott kommt und an Gott hängt – und dass dieser Gott niemand ist, den man fürchten muss, sondern dem man unbedingt trauen darf. Wenn das wahr ist, hat es für alles Menschliche Folgen, die bis an die Wurzeln reichen: Wenn Gott das Leben trägt – und Gott allein - , gibt es kei&Uumne anderen Trägerschaften, nicht die Natur und nicht die Geschichte, nicht Staat und nicht Gesellschaft, nicht Menschen und Autoritäten und nicht einmal Religion und Kirche. Wenn sich eine dieser Instanzen diese Rolle anmaßt, verfällt sie der Kritik. Genau das hat Jesus getan: Er hat den Menschen radikal freigesprochen, freigesprochen von allen Dienstbarkeiten, allem Unterworfensein, allen Opfern, mit denen er sich von anderen das Recht dazusein, erkaufen muss oder auch nur meint, erkaufen zu müssen. Der Mensch ist frei und muss sich vor nichts und niemand in der Welt fürchten. Weil Gott für ihn ist.

Freiheit - zum Leben und Sterben

Durch diese Botschaft von Gott ist Jesus in Konflikt geraten mit denen, die das anders sahen und vor allem anders wollten, weil sie daraus ihre Vorteile zogen. Darum wurde beschlossen, den Prediger dieser aufständischen Freiheit zu beseitigen. Je länger, je mehr hat Jesus selbst das kommen sehen. Trotzdem hat er sein Gotteszeugnis nicht zurückgenommen und ist er vor den Folgen dieses Zeugnisses nicht geflohen. Er blieb sich treu, weil er Gott treu sein wollte, denn er war gewiss: Weil Gott so ist, wie ich ihn verkünde, wird er mir treu bleiben auch und gerade dann, wenn mir das Letzte abverlangt wird für mein Zeugnis von ihm. Ich habe ihn "Abba" genannt, lieber Vater, der da ist für uns auf Du und Du, und so da ist, wie nur ein Gott da sein kann: unbedingt. Darum bleibt er der Daseiende auch dort, wo ich Mensch nicht mehr bin. Nicht nur nichts und niemand in der Welt muss mich in den Abgrund der Angst stürzen, sondern auch das nicht, was mir an der äußersten Grenze als Letztes widerfährt: das Sterben. Weil es mehr gibt als Leben und Sterben: Gott, der da ist für mich und dableibt im Leben und Sterben sogar. Dafür verbürgt sich Jesus, indem er alles gibt, was er hat, sich selbst, und frei das Kreuz annimmt.

So macht sein Sterben das rätselhafte Darüberhinaus über das irdische Leben, das so vielgestaltig begegnen kann, als das offenbar, was es in Wahrheit ist. Alle, die ihr Leben drangeben für jemand oder etwas, tun es um eines ihr eigenes Ende Überdauernden willen. Alle Enden wirklich überdauern aber vermag eines allein, weil, wenn es etwas Unbedingtes gibt, es nur ein Unbedingtes geben kann: Gläubige Menschen nennen es "Gott". Er selbst – und er allein – ist darum jenes Darüberhinaus, das mitten im gelebten Leben da ist und begegnet und das einem Menschen den Mut geben kann, sein irdisches Dasein in die Bresche zu werfen dafür, dass andere gerettet werden und gerade dadurch ihrerseits etwas erahnen von dem, was den, der sie gerettet hat, getragen hat.

Der gegenwärtige Grund

Das verrät das Kreuz Jesu vom Menschen: In allem, was eine oder einer tut und lebt, ist jener tragende Grund, der unbedingte, der Gott heißt, immer schon zugegen. Sichtbar wird das immer dort, wo ein Mensch an seine Grenze rührt und sie annimmt. Mehr noch dort, wo er im Vertrauen auf den ihn tragenden Grund zu diesem Ende ja sagt. Auf einmalige Weise dann, wenn dieses Ja um dieses Grundes willen selbst, der Gott heißt, gesprochen wird, wie Jesus das am Karfreitag getan hat.

Spiegelung

Das Einmalige von Jesu freier Annahme des Todes rührt daher, dass in seinem Ja zum Ende so etwas wie eine wunderbare Umkehrung begann: Indem er für Gott starb, wurde er am Kreuz selbst zu einem menschlichen Bild, einem Gleichnis des Gottes, für den er einstand. Jesus gab alles, was er war, für Gott. So bezeugte er mit Leib und Leben, wie der Gott ist, auf den er baut: Einen, der alles gibt, sich selbst, damit wir sind. Wo und wann immer auf der Welt ein Mensch seither sein Leben um dessentwillen einsetzt, was größer ist als er selbst, spiegelt er auf menschliche Weise etwas von dem Gott, der alles von sich einsetzt um dessentwillen, was kleiner ist als er selbst. Der oder die Betroffene müssen das nicht einmal wissen – und leben doch eine Wahrheit, die größer ist als sie selbst. Daher kommt das Fesselnde, die Würde, die sie alle ausstrahlen, der jüdische Sportreporter und die anderen alle, die ähnlich gehandelt haben.

Diese Wahrheit über uns und über Gott ist es, was am Karfreitag zugänglich wurde. Das ist der Grund, warum wir Christen nicht nur den Ostermorgen, sondern auch Jesu Sterben feiern müssen, denn wir ahnen: Karfreitag und Ostern sind eins.