"Christus Summus Philosophus" (B. de Spinoza)

Predigt im Rahmen der Predigtreihe der Dominikanerkirche "... homo factus comprehendi voluit" (B. v. Clairvaux) - das Christusbekenntnis im Prisma der theologischen Fächer"

I.

Zu den am meisten gelesenen philosophischen Büchern gehört seit dreieinhalb Jahrhunderten David Humes "An enquiry Concerning Human Understanding" (Untersuchung über den menschlichen Verstand) von 1748, eine Abfolge von Essays zu fundamentalen erkenntnistheoretischen Fragen. Im 10. Text setzt sich Hume auch mit dem Christentum auseinander – mit dem Ergebnis, dass kein vernünftiger Mensch den christlichen Glauben akzeptieren könne, es sei denn durch ein anhaltendes Wunder, das seinen gesunden Menschenverstand zu diesem Zweck außer Kraft setze, damit er das für wahr halten könne, was der gewöhnlichen Alltagserfahrung völlig entgegenstehe.

II.

Für breite Kreise heute ist diese Überzeugung Humes längst common sense geworden – nur wird sie drastischer zur Sprache gebracht: "Denkt an die Kinder, die heute eine christliche Erziehung bekommen. Was wird später aus diesen Leuten? Sie besitzen nur ein Glaubenssystem; sie haben eine prinzipielle Handlungsstrategie, und das ist die Vermeidung von Spaß. Damit hat es sich im Christentum auch schon, was das richtige Leben angeht. Du kniest nieder und betest diesen toten Typen an" sagt einer der Interview-Partner in David Rushkoffs Kultbuch "Cyberia".

Wirklich neu ist übrigens auch dieser abfällige Ton nicht. Schon als das Christentum im zweiten Jahrhundert in den Raum kultureller Öffentlichkeit trat, lautete in dem damals tonangebenden intellektuellen Milieu des Neoplatonismus einer der schärfsten Einwände, die neue Religion sei wegen des menschgewordenen Gottes, der dann auch noch am Galgen stirbt, schlichtweg geschmacklos – also ein ästhetischer Verstoß – und darum höchstens etwas für Idioten, ganz entsprechend dem – so wörtlich – "idiotischen Charakter" ihres Stifters, wie der große Neoplatoniker Kelsos formuliert. Von ihm angefangen über viele andere bis zu Nietzsche und am Ende des 20. Jahrhundert den rumänischen Existenzialisten Emile Cioran war der Gedanke der Menschwerdung die philosophische Provokation schlechthin, die vom Christentum ausging: "Die Inkarnation" schrieb er einmal, "ist die gefährlichste Schmeichelei, die uns zuteil wurde. Sie hat uns ein maßloses Statut verliehen, das in keinem Verhältnis zu dem steht, was wir sind. Indem es die menschliche Anekdote zur Würde des kosmischen Dramas erhebt, hat es uns über unsere Bedeutungslosigkeit hinweggetäuscht, hat es uns in die Illusion, in einen krankhaften Optimismus gestürzt..." So steht es in seinem Buch "Die verfehlte Schöpfung".

III.

Alle diese scharfsinnigen Christentumskritiker, spürten und wussten seit je – übrigens oft mehr als Christinnen und Christen selbst -, dass die christliche Überzeugung von der Menschwerdung Gottes so etwas wie ein Stachel im Fleisch der Vernunft ist, eine Herausforderung, die selbst dort noch, wo sie abgewiesen werden soll, auf eigenartig verwandelnde Weise auf ihre Kritiker einwirkt. Gut möglich, dass eben hier auch der heimliche Grund für den bis heute nicht wirklich erklärten Sieg des christlichen Denkens gegen intellektuell scheinbar überlegene Konkurrenz des Neuplatonismus und der Gnosis in der Spätantike zu suchen ist. Jedenfalls kann man ohne Übertreibung sagen, dass ohne das Christentum und die Theologie des Jesusereignisses, also die Christologie, das abendländische philosophische Denken bis heute nicht die Wege genommen hätte, die es de facto ging. Und ich denke dabei keineswegs nur daran, dass sich Gedanken wie derjenige des selbstbewussten und verantwortlichen Subjekts, der der Solidarität gerade mit den Entfremdeten, der der wechselseitigen Anerkennung, der der Freiheit und der Geschichtlichkeit des Lebens nicht so ausgebildet hätten, wie wir sie heute kennen und in Gebrauch nehmen, um unsere Welt zu ordnen. Längst gehört zu philosophischem Allgemeinwissen, dass selbst so scheinbar säkulare und trockene Problemfelder wie dasjenige der Logik dadurch schon mittelalterlich in die für es typische subtile Höhe geführt werden konnten, weil sich die einschlägigen Denker bevorzugt an der Herausforderung christologischer Gedanken wie der gottmenschlichen Einheit Christi oder in engem Zusammenhang damit am Geheimnis der Eucharistie abarbeiteten.

Aber das ist noch längst nicht alles. Das Christusgeheimnis hat nämlich nicht nur sogenannte christliche Denker wie einen Augustinus, einen Thomas von Aquin, Bonaventura oder Nikolaus von Kues in ihrem philosophischen Denken bewegt – die natürlich auch. Aber aufregender ist, scheint mir, dass das genauso für die philosophischen Denker der Neuzeit und Moderne gilt: Insbesondere für Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Hölderlin und auch noch einen Feuerbach, der erste Philosoph, der einen argumentativen Atheismus vorlegte und meinte, so erst das in der Menschwerdung verankerte christliche Prinzip der Liebe bis in allerletzter Konsequenz durchzuführen.

Die christlichen Systematiker in der Frühzeit der Kirche einst wie etwa ein Justin der Märtyrer, ein Klemens von Alexandrien, ein Origenes natürlich – der gewiß Größte damals -, später im lateinischen Bereich dann Augustinus – sie alle waren überzeugt, im Vergleich zu den griechischen Denkern vor ihnen – angefangen von den Vorsokratikern über selbst Platon und Aristoteles hinaus bis zu Plotin – die besseren Philosophen zu sein, weil ihr Denken seine einende und bestimmende Mitte in jenem Jesus von Nazaret, dem Christus Gottes hatte, dessen ältester Titel ausweislich des Lukasevangeliums nicht "Herr" oder "Sohn" oder "Meister" lautet, sondern "sophia" – also Weisheit. Und – noch gewichtiger: Er ist es, der in den ersten Versen des Johannesevangeliums mit dem so unübersetzbaren wie unausschöpflichen Namen "logos" bezeichnet wird, eben jenem Ausdruck, der schon lange vorher durch Heraklit zum absoluten Grundwort abendländischen Philosophierens geworden war.

Knapp eineinhalb Jahrtausende später waren diese denkerischen Treibsätze immer noch unverbraucht, nur dass jetzt junge Philosophen, die nicht selten ursprünglich Pfarrer hatten werden wollen, den Anspruch erhoben, im Vergleich zu einer knöchern und autoritär gewordenen Lehrsatz- und Handbuchtheologie ohne Fühlung zum Puls ihrer Zeit die besseren Theologen zu sein. Daher kommt, dass die ersten erhaltenen Denkspuren Fichtes Predigtproben sind und Probe-Predigten zu den frühesten denkerischen Dokumenten Hegels gehören. Und daher kommt auch, dass sich neuzeitliche Philosophen – unbeschadet nicht selten scharfer Kritik an den Kirchentümern der Zeit – mit neutestamentlichen Kernpassagen nicht nur beschäftigen, sondern diese zum Ausgangspunkt und Leitfaden ausgreifender philosophischer Reflexion machen. Mit der Bergpredigt geschah das, mit dem schon erwähnten Johannesprolog natürlich – so dass man etwas sagen kann, Fichtes mehr als zwanzigmal neu angesetzte und durchgeführte sogenannte Wissenschaftslehre sei nichts anderes als eine einzige Kette von Versuchen einer angemessenen philosophischen Übersetzung und Auslotung dieses Hymnus am Anfang des vierten Evangeliums. Und immer wieder ist es auffälligerweise der Gedanke des Herabstiegs des Allmächtigen, des Sich-klein-Machens Gottes, der die Philosophierenden in Bann schlägt, also das Kreuz. Namentlich die Verse des Philipperhymnus haben es ihnen angetan, jenes

"Er war wie Gott,
hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich,
wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.
Er erniedrigte sich, war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz..."

Ein Schelling sinnt dem nach, ein Kierkegaard, ein Wladimir Solowjew in Russland, eine Simone Weil, Miguel Unamuno gehört dazu. Natürlich ganz vorne Hegel, mit seinem kühnen Jugendgedanken vom spekulativen Karfreitag, durch den das Kreuz als Vollendung der Inkarnation zum Gravitationszentrum des ambitioniertesten philosophischen Systemdenkens des Abendlandes wurde. Und selbst einen Denker unserer Tage schlägt der Gedanke aus dem Philipperbrief, den die Theologen "Kenosis" – Entleerung Gottes, sein Verzichten auf Macht und Herrlichkeit – nennen, in Bann. Gianni Vattimo aus Italien ist überzeugt: Seit – wie im Christentum – von Gott gesagt werden muss, dass er selbst sich klein macht für das andere seiner selbst, also für uns Menschen und die Schöpfung, - seitdem ist jeder Gedanke, der mit Macht, Herrschaft, Gewalt zu tun hat, von seiner Wurzel her in Frage gestellt. Wenn sogar das Mächtigste, das gedacht werden kann, von Wesen so ist, dass es seinem Mächtigsein um des anderen willen entsagt, gibt es nichts Mächtiges mehr in der Welt – keine Moral, kein Dogma, keine Herrschaft, keine Autorität - , nichts Mächtiges, das nicht auch an diesem Maßstab des Um-des-anderen-willen gemessen würde. Das Machtvolle an Gottes Gottsein offenbart sich durch Christus als ein buchstäbliches Sein-Lassen von Anderem, als Anerkennung von solchem, das nicht Gott ist – mit einem Wort: als "caritas", so Vattimo wörtlich, als "Liebe", um so in Augustinus' Nähe zu treten, dem gemäß jemanden "Ich liebe dich" sagen ihm oder ihr zusichern heißt: "Ich will, dass Du bist!" Bis in die Wurzeln eines radikalen Denkens der Pluralität – der uneinholbaren Andersheit von anderem -, wie sie heutiges Philosophieren bestimmt, ist der christologische Treibsatz am Werk. Wie armselig müsste ein Philosophieren ausfallen, das von diesem Glutkern in seinem Fundament nichts wüsste!

IV.

Dass die Rede von einem christologischen Glutkern gerade der neuzeitlichen Philosophie keine Übertreibung ist, dafür steht ein Denker ein, von dem man das vorderhand am allerwenigsten erwarten würden – allein schon deshalb nicht, weil er weder Christ noch Christentumskritiker war, sondern ein aus der eigenen Glaubensgemeinschaft wegen Irrlehre ausgeschlossener Jude. Ich halte ihn für unser Fragen nach der Christusgestalt in der Perspektive der Philosophie für so wichtig, dass ich mir von ihm den Titel dieser Predigt vorgeben ließ: "Christus summus philosophus". Dieser Würdename stammt von Baruch de Spinoza, dem in meinen Augen heimlichen Mittelpunkt wirklichen philosophisch-theologischen Ringens seit mehr als 300 Jahren. Wie kommt dieser radikale Rationalist, Begründer der modernen Bibelkritik, messerscharfe Sezierer der überlieferten Rede von einem personalen Gott zu solcher Rede? Warum nennt er Christus "Mund" oder "Stimme Gottes", "Weg des Heils", einen, der "mit Gott von Seele zu Seele kommuniziert"? Meine versuchsweise Antwort: Weil er in der Gestalt Christi, des menschgewordenen Sohnes Gottes, das Vorausbild und Richtmaß für die Antwort auf jene Frage fand, deren Beantwortung sein ganzes Lebenswerk in Anspruch nahm: die Frage, wie denn das Verhältnis von Endlichem und Absolutem angemessen zu denken sei. Jedes Denken, das sich diese Frage nicht stellte, kapitulierte sozusagen schon vor seiner ersten Herausforderung. Denn wenn es Endliches gibt – und es gibt uns ja als Endliche, die eben diesen endlichen Gedanken denken –, dann liegt auf der Hand, dass dieses Endliche in einem Absoluten gründen und aus ihm kommen muss. Aber wenn das so ist: Wenn es ein Absolutes geben muss, damit Endliches sein kann, wie vermag dann wirklich Endliches zu sein, da doch – ist Absolutes wirklich absolut – , nicht noch etwas sozusagen neben ihm bestehen kann! Soll also Endliches wirklich sein – und wir sind doch! -, dann nur so und dadurch, dass es im Absoluten gedacht wird. Das In-Sein des Endlichen als solchen im Absoluten, das ist die erste Frage eines jeden aus dem Anliegen eines bewusst geführten Lebens aufkommenden Philosophierens. Spinozas Antwort lautete: "Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott seyn oder begriffen werden." Und jedes Wort war dabei radikal gemeint: dass eben das Sein alles Endlichen Gottes Sein und jedes Begreifen eines Endlichen Gottes Begreifen und im letzten Sinn Begreifen Gottes im Sinn eines Genitivus subiectivus ist – dass er in allem Begreifen also sich selbst begreift und dass alles Nachvollziehen des Seienden, je strenger, je mehr, also zumal als Mathematik, ein Bejahen des Gedachten, also Liebe des Seienden und damit Gottesliebe und wiederum im allerletzten Gottes Liebe seiner selbst ist, die in ihrem Vollzug ganz aus sich herausgeht – wie wenn man auf ein Vexierbild schaut, das dauernd zwischen zwei total verschiedenen Gestalten hin- und herkippt, obwohl, nein: weil es eine ist.

Gewiss: Wie Spinoza jene Frage nach endlich und unendlich beantwortet hat, zieht eine ganze Kaskade von neuen Fragen nach sich, läßt schnell Etiketten wie Alleinheitslehre, Monismus, Pantheismus oder Atheismus und dergleichen und manchmal alles zugleich laut werden. Aber er hat die Frage beantwortet und wer die Antwort nicht mit einer ihrer Billigvarianten verwechselt, die auch im Umlauf sind, sondern im Gesamt von Spinozas Denken wahrnimmt, wird sich einiges einfallen lassen müssen, um eine bessere Antwort auf jene Grundfrage zu finden, auch wenn sich viele andere Fragen auf anderen Wegen leichter beantworten lassen. Das sage ich nicht, weil ich so einfachhin Spinozist wäre, sondern weil ich überzeugt bin, dass man Spinoza vom Christusgeschehen her verstehen muss. Anders gesagt: Spinozas Denken läßt sich ohne das Christentum einschließlich seiner jüdischen Wurzeln und eben gerade ohne Blick auf die Inkarnation nicht verstehen. Einer meiner Lehrer, Xavier Tilliette schrieb einmal mit Blick auf Spinoza: Wenn die Philosophie auf Christus bezogen ist, wenn Christus die Philosophie im höchsten Maße ehrt, dann wirken sein Sein und Denken auf sie zurück. Sie ist seiner würdig." Was freilich – denken Sie ans Vexierbild – umgekehrt genauso nicht weniger heißt als: Auch von einem Spinoza vermag Licht auf das Christusgeheimnis zu fallen. Hatten die alten Konzilien von ihm bevorzugt in Negationen gesprochen – vom unvermischten und ungetrennten Gott- und Menschsein Jesu Christi etwa –, so lässt Spinoza eine Ahnung aufkeinem, dass und warum dort, wo Wirklichkeit bis zu ihrem letzten Grunde durchdacht, wo Vernunft und Mystik, Sinn und Liebe als ihre letzten Angelpunkte aufgehen, das Antlitz Christi, des Gottmenschen durchzuschimmern beginnt.

V.

In der Instanz der Stimme der Philosophie ist – das versteht sich von selbst – beileibe nicht alles über Christus gesagt und gewiss weniger, als selbst die einfachen Worte des Credo ausmessen. Aber ohne diese Stimme fehlte etwas, das unserem Bekenntnis überall dort, wo es sich der Rechenschaft auf dem Forum der Vernunft stellt und nach eigener Überzeugung laut 1 Petr 3,15 stellen muss, die ihm wesentliche Tiefenschärfe verleiht. Denn christliche Theologie versteht sich als Erkenntnis, die um die Macht einer Liebe weiß, die unbedingt genannt werden darf – so unbedingt, dass sie nichts für sich behalten muss, um sie selbst zu sein, so dass sie – wieder das Vexierbild – am meisten darin sie selbst wird, dass sie sich verschenkt und verausgabt. Man kann darum das Christusgeschehen mit der philosophischen Formel umreißen, dass Gott selbst sich vollständig zugänglich macht dadurch, dass er sich abhängig macht von dem, was ihm sich abhängig weiß. Vielleicht wäre das ein Gedanke, der sich in Spinozas Nähe hält und doch weniger schnell in manchen Verdacht gezogen werden kann, den der rätselhafte Denker gern auf sich zieht.

Wie auch immer – eines bleibt für uns allemal: Spinozas so stillschweigende wie offenkundige Überzeugung, dass, wer das Geheimnis Christi wirklich kennt, wirklichem Philosophieren nicht ferne ist.