Die Mitte

15. So C: Lk 10, 25-37 

I
Ein arabischer Frommer namens Sa’di traf eines Tages im Winter ein Kind, frierend in seinem dünnen Kleid und ausgehungert. Da wurde er zornig und sagte zu Gott: Wie kannst du das zulassen? Warum tust du nichts dagegen? Eine Zeit lang blieb seine Anklage ohne Antwort. Aber in der Nacht, im Traum wurde ihm plötzlich gesagt: Ich habe wohl etwas dagegen getan. Ich habe dich geschaffen.

II
Die großen Religionen wissen das alle: Dass das Wirken Gottes zuinnerst mit dem Tun von Menschen zu tun hat, ja dass es im Tun von Menschen besteht. Wie auch anders: Wenn Gott wirklich Gott ist, dann kann er nicht einfach in der Welt sein wie alles andere auch, was es in der Welt gibt. Aber wenn man trotzdem etwas merkt von ihm, dann genau dadurch, dass er Dinge oder Menschen in der Welt für sich in Dienst nimmt.

III
Nirgends wird das wohl deutlicher ausgesprochen als in unserem heutigen Evangelium. Es ist auch eine durchaus aufgeladene Situation. Jesus hatte einige Leute, die sich für Fachleute hielten, was das Religiöse, das Frommsein betraf, schon ziemlich genervt. Dauernd sagte oder tat er Dinge, die das, was bisher so üblich war, in Frage stellten. Da dachte sich einer: Dir werd’ ich zeigen, was Sache ist! Und er fragt Jesus – ausgesprochen scheinheilig, wenn man bedenkt, was die Schriftgelehrten sonst von Jesus dachten: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Als ob die Profis nicht der Überzeugung gewesen wären, sehr genau zu wissen, was nötig ist, damit man vor Gott bestehen kann!

Aber Jesus ist nicht auf den Mund gefallen. Er stellt dem Frager eine Gegenfrage: Was steht im Gesetz? Und einem Gesetzeslehrer steht wohl an zu wissen, was geboten ist. Der Fragende weiß es auch. Er sagt es genauso, wie Jesus und später die ersten Christen das jüdische Gesetz verstehen: Gott lieben mit allen Kräften und den Nächsten wie sich selbst. Jesus bestätigt ihm das. Man braucht kein Sonderwissen, heißt das, um das Rechte zu tun. Es liegt eigentlich auf der Hand.

Aber im Grunde war dem Schriftgelehrten diese Antwort zu einfach. Darum fasst er nach und stellt noch eine Frage: Und wer ist mein Nächster? Diesmal antwortet Jesus nicht mit einer weiteren Gegenfrage, sondern mit einer Geschichte, einem Gleichnis. Gleichnisse sind eine besondere Art von Geschichten. Sie informieren nicht über etwas, sondern sie treffen den Hörer. Darum kann man sie eigentlich nur nacherzählen. Genau das tue ich jetzt:

IV
Da fällt einer unter die Räuber, wird übel misshandelt. Er kann für sich selber nichts mehr tun, ist auf die Hilfe anderer angewiesen. Solche andere sind genug da. Ein Priester und ein Levit kommen vorbei, Leute also, die von Berufs wegen eigentlich wissen müssten, was sie zu tun haben – nämlich den Überfallenen nicht liegenzulassen, sondern ihm beizustehen. Aber beide gehen vorüber. Und dann kommt ein Mann aus Samarien vorüber, ein Ausländer also, und noch dazu einer, der in Israel damals schräg angesehen war – als minderwertig und religiös das Letzte. Und was tut der? Er bleibt stehen, leistet dem Überfallenen erste Hilfe, bringt ihn zur nächsten Herberge, bezahlt für seine Pflege und sagt eigens dazu, dass, wenn noch mehr nötig sei, er auch dafür aufkomme.

V
Und wer von den dreien hat sich nun als Nächster erwiesen? Denn danach hatte der Schriftgelehrte ja gefragt, was das bedeute: „Nächster“. Die Antwort kann nicht schwer sein. Und genauso prompt gibt sie der Schriftgelehrte und muss sie auch geben: Als Nächster hat sich der erwiesen, der an dem Überfallenen barmherzig handelte. Damit ist aber auch gesagt: Die entscheidende Frage, wenn es um das rechte Tun geht, heißt nicht: Wer ist mein Nächster? Sondern: Wem bin ich der Nächste? Ethisch gibt es einen Primat des Dativs. Jede beliebige Situation kann mich zum Nächsten machen.

Diese Sicht hat auf herausragende Weise der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas herausgearbeitet. In ihr begegnet der andere nicht mehr als jemand, über den oder die ich verfügen könnte. Allein sein Anblick, sein Angesicht nimmt mich bereits in Pflicht, für ihn Verantwortung zu tragen. Dem Du wird ein unhintergehbarer Primat vor dem Ich zugeschrieben. Es reicht schon, dem anderen als solchen zu begegnen, um unbedingt in Anspruch genommen zu sein: Levinas wörtlich:
„Warum betrifft mich der Andere?... Bin ich der Hüter meines Bruders? – diese Fragen haben nur Sinn, wenn man bereits zur Voraussetzung gemacht hat, daß das Ich sich nur um sich sorgt, nur Sorge ist um sich selbst. Unter dieser Annahme bleibt es in der Tat unverständlich, daß das absolute Außerhalb-meiner – der Andere – mich betrifft. Doch hat in der ‘Vorgeschichte’ des für sich gesetzten Ich eine Verantwortung das Wort. Das Sich ist von Grund auf Geisel, früher als es Ego ist, schon vor den ersten Ursachen. Es geht für das Sich, in seinem Sein, nicht darum zu sein. Jenseits von Egoismus und Altruismus geht es um die Religiosität des Sich.

Die Conditio der Geiselschaft ist der Grund dafür, daß in der Welt Mitleid, Anteilnahme, Verzeihen und Nähe möglich sind... Die Unbedingung der Geisel ist nicht der Grenzfall der Solidarität, sondern die Bedingung jeglicher Solidarität.“

Moralisch handle ich nur, wenn ich mich vom anderen als unbedingt anderen als Geisel nehmen lasse und so meinen Lebensgang der Störung durch den anderen aussetze. Zwischen dem Ich und dem Anderen waltet eine Asymmetrie zugunsten des Letzteren. Je näher mir eine oder ein anderer ist, desto unbedingter habe ich seine Andersheit, seine Fremdheit anzuerkennen – und praktisch auszuhalten.


VI
Ich bin – ich sage es ehrlich – anders als nicht wenige meiner Kollegen aus der katholischen Theologenschaft kein Fan von Levinas. Zu ungeklärt scheint mir sein Begriff vom Subjekt, zu unklar sein Verhältnis zur philosophischen Moderne, hinter die wir nicht zurück können, zu anfällig sein Konzept für autoritäre Versuchungen. Dennoch hat er Wichtiges gesehen. Und dazu gehört vor allem: Ich kann mir das Nächster-Sein nicht aussuchen.

Nur eines bleibt in allen Situationen gleich: Es geht um meine unbedingte Ansprechbarkeit, in biblischer Sprache: um mein Herz. Dass es mich barmt, den Anderen in Not und Elend zu sehen. Es geht um Barmherzigkeit. Wer barmherzig handelt, will Jesus sagen, ist Gott nicht fern – was immer sonst noch sein mag. Es ist ja auffällig, dass die Frage, die sich ursprünglich um das ewige Leben drehte, ihre Antwort in diesem Gleichnis von der Barmherzigkeit findet. Mehr als diese braucht es dafür nicht. Wo immer ein Mensch barmherzig handelt, ist die Frage nach dem ewigen Leben schon positiv beantwortet. Das endgültige Bestehen vor Gott wächst aus unserem absichtslosen Handeln am und für den Anderen, das nichts für sich will, sondern selbstvergessen auf das Gute für diesen Anderen zielt.

Wer das Evangelium ein wenig kennt, der weiß: Das ist deswegen so, weil Gott selbst der Barmherzige schlechthin ist. Ohne seine Barmherzigkeit – wenn es nach Recht und Gesetz ginge – könnte es ohnehin schon längst keinen von uns mehr geben. Wer barmherzig handelt, spiegelt in seinem menschlichen Maß etwas von der Wesensart Gottes. Und eben das ist es, was uns fehlbare Wesen vor Gott Bestand zu geben vermag: Dass wir auf unsere Weise ihm entsprechen. Ein anderes Wort für „entsprechen“ ist „Liebe“. Darum entscheidet sich für einen Christen, ob er fromm ist oder nicht, wie er mit dem umgeht, der ihm begegnet und ihn braucht. Brauchen tun jeden von uns viele. Es ist für Christinnen und Christen einfach, fromm zu sein.