Jesu Lehrerin

20. So A: Mt 15,21-28

                            
I
Gelegentlich gibt es Politiker, die musikalisch sind – oder sich dafür halten. Vor langer Zeit hatten wir mal einen Bundespräsidenten – Walter Scheel –, der fürs Leben gern das Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ schmetterte. Kanzler Helmut Schmidt versuchte sich im öffentlichen Orgelspiel, gar nicht schlecht übrigens, noch viel besser der ehemalige berühmte Kultusminister Hans Maier. Am bekanntesten war diesbezüglich der britische Außenminister Edward Heath. Seine Leidenschaft galt dem Dirigieren. Endlich durfte er eines Tages das berühmte London Symphony Orchestra leiten. Kurz vor Konzertbeginn fragte ein Reporter den Konzertmeister, welches Werk der Minister denn dirigieren werde. Der Konzertmeister gab zur Antwort: Was Mr. Heath dirigiert, wissen wir nicht. Wir spielen Beethovens „Fünfte“.

II
So kann nur jemand reden, der seiner Sache absolut sicher ist. Genau wie auch die kanaanäische Frau im heutigen Evangelium – eine der irritierendsten Geschichten des ganzen Neuen Testaments. Denn sie zeigt uns Jesus in einer völlig ungewohnten Rolle: nicht als Lehrer und Meister und Autorität, sondern – man muss sich das zunächst einmal gegen alle Klischees im Hinterkopf klarmachen: Da begegnet uns Jesus als einer, der belehrt wird, belehrt von einer Frau und noch dazu von einer Heidin, einer Ausländerin – er, der jüdische Wanderprediger und Rabbi. Belehrt über sich selbst und seine Sendung, mit der er sich von Gott beauftragt weiß.

III
Von seiner Taufe im Jordan an sah Jesus seine Aufgabe darin, eine Neusammlung des Volkes Israel einzuleiten – darum hat er ja den Zwölferkreis um sich berufen, Sinnbild der zwölf Stämme Israel, um Gottes erwähltes Volk endlich zu dem zu machen, was es eigentlich sein soll. Zunächst schien das auch zu gelingen. Die Leute strömen ihm in Scharen zu. Seine Art, von Gott zu reden und die Versinnbildung dieses Gottes in Gesten heilender Menschlichkeit, das faszinierte. Aber nicht lange, und schon gab es Widerstand und Abwendung. Was Jesus sagte, wie er war und was er tat, das war vielen zu frei. Bald schon begann sich abzuzeichnen, dass es Jesus nicht anders gehen würde als vielen Propheten vor ihm in der Geschichte Israels, möglicherweise einschließlich eines gewaltsamen Endes. Das war das Normale.

Das eigentlich Aufregende kam in Jesu Leben von anderswoher: dass Menschen, die nicht Israeliten waren, von sich aus zu ihm kommen, nicht um von einem Exoten Hilfe zu erbitten, sondern gläubig, also voll Vertrauen, dass er aus seiner Gottverbundenheit ihr Leben zum Guten zu wenden vermag. Einen schärferen Kontrast zur Ablehnung, die Jesus seitens der Mehrheit seines Volkes entgegenschlug, hätte es kaum geben können. Für ihn selber kam das unerwartet. Er wusste sich zu Israel gesandt, antwortet er der Kanaanäerin, geht darum gar nicht auf deren Bitte um Hilfe ein. Selbst den Vorschlag der Jünger, die lästige Bettlerin durch Erfüllung ihrer Bitte loszuwerden, nimmt Jesus aus diesem Grund nicht an.

Doch die Frau lässt nicht locker. Sie dachte sich wohl: Wenn wahr ist, was er von Gott sagt, wenn auch wahr ist, was die Leute von ihm sagen, kann dann die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem bestimmten Volk von Bedeutung sein, wo eines um das Leben meines Kindes geht? Hilf mir, Herr! – Jesu Antwort, in Anlehnung an ein damals gebräuchliches Sprichwort, klingt in späteren, auch unseren Ohren so hart, dass ganze Generationen von Theologen damit beschäftigt waren, durch übertragene Ausdeutungen die Schärfe dieser Worte zu mindern. Aber das änderte nichts. So wenig man Kindern das Brot wegnehmen und den Hunden hinwerfen darf, so wenig darf ich, meint Jesus damit, den Plan Gottes überspringen, wie ich ihn mir aufgegeben weiß.

Aber die Frau bleibt hartnäckig. In einer Schlagfertigkeit sondergleichen greift sie Jesu Wort auf und biegt es gleichsam um, dass es wieder für sie spricht und ihr Jesus eigentlich gar nicht mehr widersprechen kann. Du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen, erwiderte sie. Und Jesus erfüllt ihre Bitte und heilt ihr Töchterlein. Die Heidin mit ihrem enttäuschungsresistenten Glauben ist ihm zur menschlichen Lehrerin geworden, die ihn – ihn! in die Weite seines Gottesauftrags einweist. Übrigens eine der verblüffendsten Parallelen zwischen Jesus und dem größten der Philosophen, Sokrates, der in Platons Werk „Symposium“ freimütig von sich bekennt, von einer Frau, nämlich der Priesterin Diotima, darüber belehrt worden zu sein, was Liebe zur Weisheit eigentlich meine – und dass er ihr geglaubt habe.

IV
Die Begebenheit mit der kanaanäischen Frau verrät von Gott fast mehr als über den Menschen. Gewiss ist von Belang zu begreifen, dass zum Glauben ein gewisses Maß von Beharrlichkeit gehört. Ich kann nicht nur beten, wenn ich Lust habe oder wenn es mir schlecht geht. Und ich kann nicht nur Gottesdienst feiern, wenn es in den Terminkalender passt oder mir der Zelebrant oder Prediger sympathisch ist. Glaube steht und fällt damit, dass er sich von nichts und niemand beirren lässt, nicht einmal von der Fremdheit, die manchmal die Nähe Gottes verhüllen kann – wenn mir alle Argumente und Erfahrungen gegen Gott und Glaube triftiger scheinen als das, was für ihn spricht. Martin Luther kommentierte zu unserem Evangelium: Das Wort Jesu musste für die Frau ein Donnerschlag sein, der beide, Herz und Glaube, auf tausend Stücke zerschlüge. Aber sie hält sich an das Wort – sie klammert sich daran – und vermag so unter und über dem Nein mit festem Glauben das heimliche Ja Gottes zu fassen. „Heilige Unverschämtheit“ sagte Teresa von Avila dafür – eine Gottesgabe.

Trotzdem scheint mir ein anderes noch wichtiger: Wenn wahr ist, was wir Christinnen und Christen von Jesus glauben und unbeholfen mit dem Namen „Sohn Gottes“ auszudrücken suchen, dass der Mensch Jesus untrennbar seit je und für immer zu Gott gehört, weil er dessen lebendiges Gleichnis ist, – wenn das wahr ist und wenn zugleich wahr ist, dass Jesus durch die kanaanäische Frau entdeckt hat, dass seine Sendung allen – Juden und Heiden – gilt, dann lässt uns diese Geschichte ein wenig ahnen, auf welches Abenteuer sich Gott mit der Menschwerdung eingelassen hat. Er ging so weit, dass er sich von seinen eigenen Geschöpfen beeindrucken ließ im buchstäblichen Sinn des Wortes. Wenn es den Gott der Bibel gibt, dann macht dieser Gott nicht nur Geschichte, sondern er hat Geschichte, teilt also mit uns genau das, was unserem Leben jenen Zug des Unwiderruflichen einschreibt, der es manchmal so schmerzlich und manchmal so wunderbar macht.

V
Dazu gehört nicht zuletzt auch, dass wir dieser Frau aus dem heidnischen Kanaan, von der wir nicht einmal den Namen kennen, verdanken, dass wir – geborene Heiden wie sie – Christinnen und Christen sein können. Sie ist unsere Stammmutter im Glauben. Ob es ohne sie je Christen außerhalb des Judentums gegeben hätte? Ob sich ohne die Geschichte von ihr die junge Kirche getraut hätte, unter Heiden Mission zu treiben? Wie auch immer: Das Schönste an der ganzen Geschichte: nichts an unserer Menschenwelt ist Gott so fremd oder fern, dass es nicht Ausdruck seiner Leidenschaft für uns werden könnte. Gut möglich, dass sich hinter etwas, was wir als unsere eigene Stärke empfinden, auch so eine Gottesspur verbirgt wie hinter dem hartnäckigen Glauben der Frau aus Kanaan. Entdecken wird das, wer nicht zu klein von Gott – und nicht zu klein von sich selber denkt.