Selbstverständliche Erhörung

17. So C: Lk 11, 1-13

I
Es wird wenige Passagen im Evangelium geben, die uns vertrauter sind als das, was wir soeben hörten – das Vaterunser und ein paar Zusätze, die nur Lukas überliefert. Selbstverständlich sind die paar Verse trotzdem nicht. Im Grunde versteht sich da gar nichts von selbst. Wirklich nichts. Denn das ganze Vaterunser ist ja ein Bittgebet. Und Bittgebete zielen auf Erhörung. Nichts anderes. Wenn es so etwas wie einen Hebelpunkt des Atheismus gibt, dann – neben der Theodizeefrage: also wie Gott all das schreckliche Leid in der Welt zulassen könne –; neben ihr also: das Scandalon unerhörter Bitten. Das krebskranke Kind stirbt trotz dreier Wallfahrten. Eine Beziehung geht zu Bruch, obwohl der/die eine oder beide gefleht haben, es möge nicht geschehen. Der Pflegefall in der Familie, der alle überfordert. Die Nahestehende, die alle Konventionen von sich wirft und nur noch peinlich ist für die Ihren. Und so fort. Bittgebet? Kerzen anzünden?

II
Da legt sich radikale Remedur nahe, die das Problem erst gar nicht aufkommen lässt. Das war schon im Mittelalter so. Als im 13. Jahrhundert das komplette Werk des Aristoteles wiederentdeckt wurde, die christliche Welt auf einmal mit einer von der Bibel vollständig unabhängigen Sicht von Welt und Gott und Leben konfrontiert war, da stand sofort auch unser Thema „Bittgebet“ auf der Agenda. „Quod non est orandum“, lautete damals eine der Parolen: Es gehört sich nicht zu beten. Und das sagten die Aristoteliker nicht, weil sie nicht an Gott glaubten, sondern weil sie das Gottsein Gottes durch an ihn gerichtete Bitten gefährdet sahen: Wenn Gott Gott ist, so dachten sie, dann weiß er alles seit je und leitet er alles von je. Jede Bitte, die sich an ihn richtet, verkennt das. Sie versucht ja, ihn zu beeinflussen – als ob er, der völlig vollkommen in sich ruht, dessen bedürftig oder auch nur fähig wäre. Also: quod non est orandum – es gehört sich nicht, zu beten um Gottes Gottsein willen.

III
Lieber Himmel: Und dann demgegenüber das Vaterunser! Eines Tages sahen die Jünger Jesus beten. Als er geendet hatte, bittet ihn einer: Herr, lehre uns beten. Jesus folgt dieser Bitte und vertraut den Jüngern fünf Bitten an – fünf Bitten, wie sie unerwarteter nicht sein können, wenn einer gefragt wird, wie denn auf rechte Weise mit Gott zu sprechen sei. Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, dein Name werde geheiligt. Ohne Einleitung, ohne Schnörkel unterwürfiger Annäherung, ohne vorherige Entschuldigung für die Belästigung einer Schauern machenden Majestät dürfen die Christen Gott als ihren „Vater“ anreden. Das aber heißt: mit dem ersten Wort, mit dem Jesus die Seinen beten lehrt, nimmt er sie hinein in sein eigenes Verhältnis zu Gott – hinein in eine Vertrauensgemeinschaft, die durch nichts verstellt ist und die allein schon durch den Herzensfrieden, den sie schenkt, das ganze Glück einer Menschenseele ausmacht: Abba, lieber Vater, der du mich geschaffen hast und der du mich jetzt trägst. Und dann die erste Bitte; sie kann nur sprechen, wer mit seinem Beten keinen Zweck, keine Absicht in seinem Interesse verfolgt, sondern beglückt ist, dass Gott ihm Vater sein will: Dein Name werde geheiligt, das meint: Dir, deinem Namen, also dem Vater-Namen werde die Ehre gegeben. Weil du so für uns da bist, wie dieser Name besagt, darum sollst du allererst gelobt und soll dir Dank gesagt sein, dass alle Welt dich erkenne und dir singe. Weil du unser guter Vater bist, darum kann uns dein Lob wichtiger sein als die drängendsten Anliegen sogar, denn wir sind gewiss, dass unsere Anliegen und unsere Bitten darum, dass es gut ausgehe mit unserem Leben – , dass diese Bitten und ihre Erhörung schon aufgehoben sind in deinem Vatersein, aufgehoben oft anders als wir uns ausdenken, aber unwiderruflich und unvergessen aufbewahrt in Deiner Sympathie für uns.

Die zweite Bitte – Dein Reich komme – ist gleichsam nur noch ein selbstverständlicher Nachtrag zur ersten: sie will, dass sich dieses ungestörte Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Jesus und dann durch Jesus zwischen Gott und den Christen, die das Vaterunser beten –, dass das sich allüberall ausbreite in der Welt; dass jedem Menschen gegeben sei, an dem Glück dieser Geborgenheit teilzuhaben. Wieder also die Absichtslosigkeit, weil keiner etwas für sich allein erfleht, sondern an die anderen denkt, weil er sich selbst schon beschenkt weiß dadurch, dass er zu Gott „Vater“ sagen darf.

Umso überraschender muss uns freilich nun die dritte Bitte vorkommen, die Jesus uns lehrt: Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Mitten in den geistlichen Gedanken an Gott und sein Reich ist auf einmal vom Essen die Rede. Und das ist fürwahr kein Zufall, sondern intensives, ja untrügliches Indiz für die Menschlichkeit des Evangeliums. Wir sind eben keine engelgleichen Geistwesen, die einzig von frommen Gedanken und Halleluja-Singen leben. Wir haben zur Seele auch einen Leib, der sein Recht fordert und mehr braucht als Luft und Liebe sogar: nämlich Brot. Bis in die Höchstform des christlichen Gottesdienstes hinein findet diese Menschlichkeit des Evangeliums ja ihren Widerhall: genau im Punkt der Vollendung des Dankgebets der Eucharistie als dem Ausdruck unserer Hingabe an Gott, da gibt es für den dankenden Menschen zu essen: Brot und Wein, damit er mit allen Sinnen die überschwängliche Fürsorge Gottes erfahre. In der Brotbitte des Vaterunsers vertrauen die Christen also auch die Bedürfnisse ihrer Sinnlichkeit dem himmlischen Vater an: Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen. Die Bitte geht wohlgemerkt auf ein Doppeltes: Gib uns das Brot, das wir brauchen – also nicht weniger, aber auch nicht mehr als uns gut tut. Der Herr weiß um unsere Angst gezeugte Versuchung, mehr Brot zu brauchen oder einfach zu horten als wir wirklich brauchen, um zu leben. Und solches geschieht immer dadurch, dass andere weniger haben als sie bräuchten. So lehrt uns Jesu Brotbitte unbeschadet unserer Bedürfnisse wieder jene Absichtslosigkeit, die es braucht, damit wir selber gegeneinander nicht hart und lieblos und ungerecht werden.

Nach der Brotbitte folgt die Bitte um Vergebung der Sünden. Sie kennen vielleicht jenes bitterböse, gleichwohl unbestreitbare Wort Brechts, dass zuerst das Fressen komme und dann die Moral. Erst der Mensch, der seiner elementaren Überlebenssorge ledig ist, kann ein feines Gespür dafür entwickeln dafür, wo überall er Gott etwas – und meist viel – schuldig bleibt und darum um Vergebung bitten. Von welch ungeheurem Gewicht ist, was diese Bitte erhofft, kann freilich nur ermessen, wer selbst bereit ist, denen zu vergeben, die an ihm oder ihr selbst schuldig geworden sind. Es braucht die menschliche Einübung des Verzeihens, damit ein Mensch Gott ehrlich um Vergebung bitten kann: erlass uns unsere Sünden, denn – denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.

Und schließlich: Führe uns nicht in Versuchung! Unser Leben ist manchmal so kompliziert, so undurchschaubar; es kommt uns so unbegreiflich hart vor, dass wir sogar unsern Glauben verlieren möchten – und damit den Schatz, zu Gott Vater sagen und uns mit Leib und Seele der fürsorglichen Liebe Gottes anvertraut wissen zu dürfen. Davor bewahre uns! Wir müssen keine Hölle fürchten und kein Paradies unter Aufbietung aller Kräfte erkämpfen, solange du, Gott, lieber Vater, uns deine Spuren sehen, wenigstens ahnen lässt, in den Windungen der Tage, die du uns schenkst. Lass uns deinen Namen „Vater“, der auch „Mutter“ meint, so ernst nehmen, dass wir uns an ihn klammern, auch dann noch, wenn wir uns im Treibsand unserer Lebtage gänzlich verlassen vorkommen. Das erfleht die Bitte, vor Versuchung bewahrt zu bleiben.

IV
Vielleicht sagen Sie jetzt: so weit, so gut – oder so schlecht, je nach dem. Aber was jetzt? Selbst wenn ich die Vaterunser-Bitten so verstehe, wie eben vorgeschlagen – wie ist das denn nun mit dem erhört Werden? Eine erstaunliche Antwort auf diese Frage habe ich in den autobiographischen Erzählungen  Die Erben der Tante Jolesch von Friedrich Torberg gefunden, einem jüdischen Essayisten und Kritiker, der bei uns vor allem als Übersetzer von Ephraim Kishon bekannt geworden ist.

Der Wilnaer Gaon, einer der großen Rabbiner des 19. Jahrhunderts wurde ringsum dafür bewundert, dass er in seinen Disputen und Predigten immer so treffende Gleichnisse fand. Befragt, wie er das denn mache, antwortete er – mit einem Gleichnis:

Ein junger Graf namens Lubomirski war auf dem Heimweg von seiner Ausbildung auf der Militärakademie, wo er als bester Reiter und sicherster Schütze seines Jahrgangs abgeschlossen hatte. Als er unterwegs in einem Dorfgasthof einkehrte, sah er etwas, was augenblicklich seine Aufmerksamkeit erregte: Auf einer Stallmauer war eine Reihe winziger Kreidekreise gezeichnet, und exakt in ihrer Mitte lauter Einschüsse, die von einer Pistole stammten. Das muss ein Meisterschütze sein, dachte er, besser als ich, und er fragte den Wirt, wer denn da dahinter stecke. Der Wirt war sofort bereit, den Schützen zu holen. Die Tür geht auf, herein kommt ein schmächtiger Talmudschüler mit Brille und Kippa. Graf Lubomirski ist sprachlos. Du? Du bist der Meisterschütze? Der Angeredete schüttelte schüchtern den Kopf: Nein, ich bin kein Meisterschütze. Ich habe nicht in die Kreise hinein getroffen. Ich habe zuerst geschossen und dann um den Einschuss herum den Kreis gezogen. – Und, so schloss  der Wilnaer Gaon, so finde ich meine Gleichnisse.


V
Mir scheint, die Sache mit dem Bittgebet dürfen wir uns ähnlich vorstellen. Die Erhörung hängt ab von dem, worum wir bitten. Wenn es das wirklich Wesentliche ist, bleibt sie nicht aus. Um eben dieses Wesentliche geht es in den Vaterunserbitten. Die große Not, die wir mit dem Bittgebet manchmal haben, rührt daher, dass wir dieses Wesentliche nicht erkennen und anderes dafür halten. Anders gesagt: Jedes Gebet, das sich an das Grundmuster des Vaterunsers hält wird, nein: ist erhört. Das Bittgebet zielt nicht darauf, unsere Wünsche durchzusetzen, es hat seinen tiefsten Sinn darin, unser Denken und Fühlen in Einklang zu bringen mit den Tiefen Gottes. Zu diesen Tiefen gehört auch das Abenteuer des Endlichseins der irdischen Dinge, ihre Kontingenz, ihre – mit menschlichen Augen gesehen – Zufälligkeit, die dennoch nichts davon nimmt, das alles, was war, ist und geschieht, unverlierbar eingeborgen bleibt in dem, der der All-Eine ist. 

Vielleicht gibt es dafür so etwas wie ein subjektives Experiment. Sie könnten bisweilen das, was Ihnen widerfahren ist, vergleichen mit dem, worum Sie gebetet haben. Und wenn zwischen beidem ein Unterschied klafft, dann überlegen Sie, wie Sie hätten beten müssen, dass Ihr Gebet zu dem gepasst hätte, was Ihnen geschehen ist. Es wird immer ein Gebet sein nahe am Vaterunser.