Wider die geistliche Mangelverwaltung

14. So C: Apg 17, 22-34 [zugewählt] + Lk 10, 1-12. 17-20

     
I
Wenn Katholiken den Satz von der großen Ernte und den wenigen Arbeitern aus dem heutigen Evangelium hören, fällt ihnen spontan das Stichwort „Priestermangel“ ein. Sachlich gesehen ist diese Assoziation ziemlich schräg, weil es im Neuen Testament gar keine Priester im heutigen Sinn gibt. Nur einer wird so bezeichnet: Christus selbst, im Hebräerbrief. Daneben gibt es Jünger wie die vorhin erwähnten siebzig, die zum Verkünden ausgesandt sind, später dann kommen Diakone und Diakoninnen hinzu, Presbyter – zu Deutsch: Älteste – und Episkopen, also Bischöfe. Das sind alles Funktionen im Dienst der Gemeinde, nichts sonst. Das Hierarchische und Klerikale, die Sakralisierung kam erst später durch Einflüsse jüdischer und politisch-römischer Traditionen hinzu. Wie wenig selbstverständlich unser katholisches, in der Regel völlig überzogenes und mystifiziertes Bischofsbild ist, wird etwa daran greifbar, dass der Bischof der Bremischen Evangelischen Landeskirche bis heute einfach „Schriftführer“ heißt.

II
Bedenkt man diese Hintergründe ein wenig, dann stellt sich freilich heraus, dass das Stichwort „Priestermangel“ im Horizont des heutigen Evangeliums vielleicht doch nicht so ganz falsch ist. Denn dieser Mangel kommt nicht zuletzt, sondern zuerst aus der radikalen Verengung des kirchlichen Amtes auf eine ganz bestimmte exklusive Gestalt: den männlichen zölibatären Priester. Dass es in der frühen Kirche mit Sicherheit verheiratete Prebyter gab, die der eucharistischen Versammlung vorstanden, dass Frauen wie etwa Phoebe in Kenchreä bei Korinth den Diakonendienst ausübten oder die im Römerbrief von Paulus erwähnte Junia den Aposteln zugerechnet wird – bis man im 13. Jahrhundert, weil nicht sein kann, was sein darf, ihren Namen in den Männernamen „Junias“ umfälschte. Oder die Purpurhändlerin Lydia aus Thyatira, die wohl Vorsteherin einer Hauskirche, also Gemeinde gewesen ist. Alles bis heute amtlich ignoriert. Allerdings hat Papst Franziskus erst vor wenigen Wochen einen Stein ins Wasser geworfen mit der Bemerkung, er halte für angebracht, die Frage des Diakonenamtes für Frauen genau zu prüfen.

III
Die verbreitete amtliche Ignoranz ist umso beirrender, weil mittler-weile unseren Bistümern nicht nur die Priester, sondern auch die Pastoralreferentinnen und -referenten ausgehen (was mich bei diesem kastrierten Berufsbild auch nicht wundert). Am Dramatischsten freilich wird das Problem tatsächlich an der Priesterfrage sichtbar. Der derzeitige Sprecher der deutschen Regenten, also Verantwortlichen für die Priesterausbildung, der Münsteraner Regens Hartmut Niehues, sagte im vergangenen April wörtlich: „Das System, wie es heute besteht, ist am Ende.“ Und: Hinsichtlich der Zahl von Priesteramtskandidaten würden wir uns quasi an der Null-Linie bewegen. Das Verrückte dabei: Kaum jemand reagierte darauf, nicht einmal die Konservativen, die gern behaupten, es gebe überhaupt keinen Priestermangel, weil aus Mangel an Gläubigen die Zahl der Seelsorger durchaus reiche.

IV
Und wie reagiert man bislang auf das System-Ende? In der Regel durch den Import von noch mehr Priestern aus Indien oder Nigeria – ohne allzu viel Rücksicht auf die kulturellen Differenzen und die Konflikte, die sich daraus nicht selten ergeben. Oder man fusioniert in Gemeinden wie jüngst im Bistum Trier: Im Lauf der nächsten fünf Jahre sollen aus bislang 900 Gemeinden 60 Großpfarreien geformt werden – und niemand weiß bislang, was das etwa für Mitarbeiterstellen oder auch nur die Verwaltung der Pfarrvermögen, die oft für die Gemeindedienste wichtig sind, bedeuten wird. Die Folge liegt auf der Hand: Ein Rückzug der Kirche aus der Fläche und weg von den Menschen. Wo sie doch, wie Papst Franziskus nicht müde wird zu betonen, bis an die Ränder der Gesellschaften und Kulturen gehen sollte! Was könnte uns weiterhelfen in dieser Situation?

V
Vielleicht die Heilige Schrift. Einen ersten Wink gibt uns die zweite Lesung: Es ist die berühmte Rede des Apostels Paulus auf dem Areopag in Athen. Die Apostelgeschichte erzählt ungeschminkt, wie der sonst so erfolgreiche Gemeindegründer Paulus in Athen, der Stadt der Philosophen, seinen größten Reinfall erlebt. Er geht öffentlich predigen, stellt sich der Diskussion mit epikureischen und stoischen Philosophen. Einige winken gleich ab, andere sind hochinteressiert und wollen mehr wissen. Paulus, Prediger-Fuchs, der er ist, packt die Gelegenheit beim Schopf. Beim Rundgang auf dem Areopag hatte er einen Altar mit der Aufschrift „agnostho theo“ entdeckt, „Dem unbekannten Gott“ geweiht. Jetzt, um Rechenschaft über seine Kunde gebeten, greift er darauf zurück, um seine Zuhörerschaft – seelsorgerlich gesprochen – abzuholen, identifiziert den Gott, den er verkündet, mit dem Unbekannten Gott der Athener, beruft sich dabei sogar noch auf einige ihrer Dichter, die davon singen, dass uns Menschenkindern Gott nicht fremd ist, sondern wir in ihm leben, bewegen und sind. Am Schluss kommt er logischerweise auf Jesus zu sprechen, und diese Jesus-Rede muss ebenso logisch in die Auferstehung münden. Aber dabei widerfährt dem Apostel, was jeder lästige Versicherungsvertreter bis heute erlebt: „Darüber wollen wir dich ein andermal hören“ (Apg 17,32). Darum ging er, so endet die Episode, unverrichteter Dinge aus ihrer Mitte weg. 

Bei den einen von vorne herein Ablehnung, bei anderen durchaus Interesse, gar nicht wenig sogar – und dann doch eine bis ans Fundament reichende Verschlossenheit für die Grundbotschaft des Christlichen: Was Paulus damals erlebte, gehört heute zur Alltagserfahrung der meisten, die bei uns im Dienst der Verkündigung stehen. Natürlich kann man sich leicht täuschen lassen vom überfüllten Petersplatz zu Ostern oder den vollen Domen an Weihnachten. Aber was die Kernmitte des Glaubens betrifft, sind wir längst auf dem Weg vom Petersplatz wieder zum Areopag zurück, symbolisch gesprochen.

Waren die Kolonnaden Berninis und Michelangelos Kuppel darüber für etliche Zeit Sinnbild für das sogenannte christliche Abendland, das dieselben Werte teilte und die Welt durch die gleiche Brille wahrnahm, stellt sich heute von Neuem die Areopag-Situation: dass allenfalls die Botschaft von einem unbe-kannten Gott Gehör findet, dem jede und jeder aus eigener In-stanz Profilzüge verleiht, wenn sie oder er denn möchte. Anders ist ja nicht zu erklären, dass die Welt – auch die westliche – von religiösen Aufbrüchen geradezu dampft, dass sich die christlichen Großkirchen aber zugleich im Sturzflug befinden, was ihre öffentliche Bedeutsamkeit und vor allem die Verständlichkeit ihrer Botschaft betrifft. Längst ist keine Seltenheit mehr, was mir neulich ein Lehrer erzählte: Als er mit seiner Klasse beim Ausflug einen Dom besuchte, fragte ihn einer seiner Schüler – 16 Jahre alt –, was das denn für ein Typ sei, der da oben so komisch an-genagelt hänge. Und im Übrigen sei es geschmacklos, das Bild. Aufs Wort genau so haben die gebildeten Heiden damals gere-det, auf dem Areopag und anderswo. 

Unter solchen Vorzeichen wird man heute Priester und Seelsorgerin – also jemand, der sich in Wort und Zeichen zu bezeugen getraut, dass Gott nicht hat der Unbekannte bleiben wollen, sondern sich in einem gewissen Jesus von Nazaret, in dessen Leben und gerade auch Sterben kenntlich gemacht hat auf unwiderrufliche Weise. Wer das tut, leistet sich ein handfestes Abenteuer, würde ich sagen.   

VI
Dieses Abenteuer wird nicht kleiner dadurch, dass sich in der Bibel, namentlich im Alten Testament, Züge finden, die mit der Areopag-Situation auf ganz eigenartige Weise zusammengehen: Anders als der mit den Vätern für den Exodus und den Einzug in das gelobte Land geschlossene Bund werde der neue Bund sein, prophezeit da etwa Jeremia. Anders dadurch, dass die Tora – das Gottesgesetz – nicht mehr auf Steintafeln, sondern ins Herz der Menschen geschrieben sei. Und dann brauchten sie sich nicht mehr gegenseitig zu belehren, sondern alle – Groß und Klein gleichermaßen – würden Gott erkennen.

Diesen Neuen Bund kennzeichnet also eine atemberaubende Un-mittelbarkeit zwischen Gott und dem Einzelnen. Jede und jeder steht mit ihm auf Du und Du. Wer Gott ist und was es mit ihm auf sich hat, findet, wer in sein Inneres geht und dort die Gottesschrift, seine Signatur sozusagen, wahrzunehmen vermag. Das sagte Jeremia im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Grob gesprochen ein Jahrtausend später treibt genau dieser Gedanke den größten Theologen der frühen lateinischen Kirche um: Augustinus. Und noch einmal 1300 Jahre später bewegt er einen der größten philosophischen Geister deutscher Sprache, den Königsberger Immanuel Kant. Im 20. Jahrhundert faszinierte der Gedanke den Theologen Karl Rahner – und gegenwärtig wagen sich einige wenige, aber die umso engagierter, in die Spuren, die die soeben Genannten gelegt haben. Was sie alle so faszinierte an der Idee einer Gotteskompetenz nicht nur der Profis, die den theologischen Slang beherrschen, sondern aller, der Großen und Kleinen, biblisch gesprochen, war und ist, dass sich das, was Jesus von Nazaret sagte, tat und war, bis ins Detail als Erfüllung dessen verstehen lässt, was Jeremia in prophetischer Utopie verheißen hatte:

Es sind die Kleinen, die Armen, die Kinder, die zu allererst etwas von Gott verstehen, verkündet er. Seine Botschaft richtet er nicht in Lehrsätzen, sondern in Gleichnissen aus – in Gleichnissen ge-schöpft aus der Welt des familiären Haushalts, der Bauern und Fischer. Mehr noch: Um Gott zu begegnen, braucht es für ihn keine Opfer, keine Priester und Hierarchien also Heilige Herrschaften. Und erst recht natürlich keine Monsignori, Kanoniker, Prälaten, Protonotare und was es sonst an katholischer Folklore geben mag, denn: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen – und nicht erst dort, wo die Gottesgegenwart amtlich dekretiert wird. Und der da in erster Person spricht und darum „ich“ sagt, ist sich gewiss, dass sich in dem, was er tut, auf menschliche Weise spiegelt, wie Gott ist: dass er Hungernden zu essen gibt, Kranke gesund macht, auf die Sünder von sich aus voraussetzungslos zugeht und ihnen damit einen neuen Anfang schenkt. Ein Mensch aus Fleisch und Blut als lebendiges Gleichnis Gottes. Und er ist das dazu, dass wir werden, wie er war. Das ist der Kern des Evangeliums und genaue Verwirklichung jenes Neuen Bundes, von dem Jeremia kündete.

VII
Wenn das aber wahr ist, wenn es diese Gottunmittelbarkeit eines jeden Menschen gibt, dann besteht die Grundaufgabe aller Verkündigung und aller Seelsorge darin, diese Gottesgegenwart gleichsam zu wecken, in Wort und Zeichen sichtbar und hörbar zu machen und Menschen einzuladen, zu dieser ihrer innersten Mitte „ja“ zu sagen und sich dem anzuvertrauen, der sich da schon längst zu ihrem Innersten gemacht hat. Um in Anlehnung an Paulus zu sprechen: Für diesen Dienst kommt es überhaupt nicht darauf an beschnitten oder unbeschnitten
 zu sein, also auf unsere Frage übertragen: Es kommt nicht darauf an, ob jemand Mann oder Frau ist, verheiratet oder ehelos lebt. Sondern es kommt darauf an, neue Schöpfung zu sein. Das könnten wir schon lange sein, wenn wir uns nicht von unseren eigenen Klischees fesseln ließen. Und darum sage ich denen, die mich jedes Jahr am Welttag der geistlichen Berufe auffordern, um Priesternachwuchs zu bitten, – ihnen sage ich mit den Worten des Paulus aus dem Galaterbrief-Schluss: In Zukunft soll mich niemand mehr belästigen – belästigen mit einem hohlen Ritual, wo uns doch Gott überreich Geistesgaben in die Hände von Männern und Frauen gelegt hat, um sein Evangelium zu verkünden und dem Reich der Himmel zuzuarbeiten. Glaube hat halt auch mit Mut und mit Freiheit zu tun.