Störfaktor

Fest des Hl. Stephanus: Apg 6,8-10, 7,54-60

I                 
Vor einiger Zeit kam es in den USA zu einem Gerichtsverfahren, wie es bislang wohl nur in Amerika möglich ist. Kläger war ein Student. In seiner Hochschule hing auf einem der Gänge ein Christusbild. Das störte ihn. Er sah dadurch die gesetzliche Trennung von Staat und Kirche verletzt. Die Richter waren sich zunächst nicht eins. Darum ordneten sie an, dass das Bild einstweilig mit einem Samtvorhang verdeckt werde.

Dann ging die Sache in die zweite Runde. Der richterliche Entscheid lautete: Neben dem Christusbild müssen zwei gleich große Bilder von Abraham Lincoln und Martin Luther King gehängt werden. Unter den Bildern sei ein Hinweis anzubringen, dass sie nicht aus öffentlichen Mitteln erworben worden seien und dass sie keine Unterstützung für eine religiöse Überzeugung darstellten. Dann dürfe das Christusbild bleiben. Das ist political correctness pur, wie sie heute in aller Munde ist. Ursprünglich gedacht als Schutz und Anerkennung von ethnischen, sozialen oder religiösen Minderheiten, ist mittlerweile daraus eine Allzweckwaffe geworden, um unliebsame Meinungen anderer zum Schweigen zu bringen.

II   
So verhält es sich auch mit dem Christusbild vorhin. Ein bisschen viel Aufwand für ein schlichtes Bild an der Wand, möchte man meinen: der Vorhang, zwei Seitenbilder und die Beschriftungen. In Wirklichkeit geht es um viel mehr. Es geht darum, wer Jesus Christus ist und was daraus folgt. Der Student hatte sich gestört gefühlt, in einem öffentlichen Gebäude an den Mann aus Nazareth erinnert zu werden. Die Richter zogen sich aus der Affäre, indem sie das Bild einebneten: Jesus zwischen einem vorbildlichen Politiker und einem begnadeten Menschenrechtler. Der gute Mensch von Nazareth eben. Einer, mit dem man einverstanden sein kann oder eben auch nicht. Nur Störfaktor darf er keiner sein.

III   
Irgendwie ja nicht unsympathisch, diese Sicht der Dinge, und sehr amerikanisch - so scheint es. In Wirklichkeit ist sie uralt, nur dass man solche Ansichtssachen früher deutlich drastischer ausgetragen hat. Zum Beispiel mit Steinen, wie im Fall des Stephanus. Stephanus ist der erste Christ, der wegen seines Glaubens getötet wurde. Stephanus war einer der ersten sieben Diakone in der frühen Kirche gewesen. D.h. er war zuständig für Sozialarbeit und Caritas. Folgte man dem, was die Apostelgeschichte erzählt, dann hat er seine Sache sehr gut gemacht. Vor allem so, dass dabei offensichtlich herüberkam, dass die Sorge der Christinnen und Christen um die Armen, die Verlassenen eine direkte Folge ihres Glaubens an Jesus Christus war. Anders gesagt: Dieser Glaube des Stephanus hatte öffentliche Folgen. Das ist wohl gemeint, wenn es heißt, Stephanus habe voll Gnade und Kraft Wunder und große Zeichen unter dem Volk gewirkt. Und die Folgen dieses Glaubens haben das Herkömmliche, das, was eben so üblich war, kritisch in Frage gestellt.

Genau das hat diejenigen aufgeregt, die das Sagen hatten. Sie wollten, dass alles so bleibt, wie es ist. Nur keine Störung! Aber haben sie dazu den Störer Stephanus gleich umbringen müssen? Hätten sie ihn nicht auch lächerlich machen, ihn als Idioten hinstellen oder einfach ignorieren können, um ihm die öffentliche Aufmerksamkeit zu entziehen? Das wäre natürlich eleganter gewesen. Aber wenn man näher zusieht, was denn eigentlich der konkrete Anlass war, Stephanus zu steinigen, dann merkt man sofort: Mit Ignorieren oder lächerlich Machen war der öffentlichen Störung nicht beizukommen, die von ihm ausging.

IV
Die Apostelgeschichte sagt dafür: Stephanus habe, vom Heiligen Geist erfüllt, Gottes Herrlichkeit und Jesus bei Gott gesehen und dann ausgerufen: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. In Worten von heute gesagt: Stephanus war überzeugt: Himmel und Erde sind einander weder fremd noch fern. Und die Brücke zwischen beiden ist Jesus Christus. Mehr noch: Wenn man den, der hier gelebt hat, mit den Augen des Glaubens bei Gott sehen kann, sind Himmel und Erde aufs Engste verbunden.

Gesetzt, das wäre wahr, dann hätte das unabsehbare Folgen. Denn das hieße: Alles, was auf Erden geschieht, ist von Belang für die Ewigkeit; alles, nicht nur das Frommsein, das Beten, die Opfer, so gut die sind. Aber genauso die Güte und die Barmherzigkeit oder aber die Herzlosigkeit, mit der Menschen einander begegnen. Alles eben. Und umgekehrt hieße es auch: Der Himmel, also Gott selbst ist gleichsam in die Welt eingewandert, so dass man ihm mitten im Leben begegnet. Und am unmittelbarsten freilich in demjenigen – also Jesus –, der die Brücke zwischen oben und unten geschlagen hat, doch genauso auch in denen, mit denen er sich selbst identifiziert hat, wie Jesus es in seiner letzten Rede vor der Passion im Matthäus-Evangelium getan hat: Ich hungerte, und ihr gabt mir zu essen, ich dürstete und ihr tränktet mich, fremd war ich, und ihr führtet mich heim, […] im Gefängnis war ich, und ihr kamt zu mir. Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

Anders gesagt: Wenn der Himmel zur Erde offensteht, wie Stephanus bezeugt, dann haben Welt und Leben irgendwie etwas von Gott bekommen, dann ist die Erde von Gott durchtränkt und durchpulst – bis ins Materielle hinein,  und umgekehrt hat Gott so etwas wie eine weltliche Seite. An einen solchen Gott glauben freilich heißt unweigerlich: Sich aus diesem Glauben einmischen in die Welt, einmischen zumal dort, wo Menschen ihre Würde geraubt oder vorenthalten oder sie einfach an den Rand gedrängt werden. Gerade Papst Franziskus setzt dafür immer wieder bewegende Zeichen, so mit seiner allerersten Reise, die ihn in das Flüchtlingselend von Lampedusa führte, mit seinem Gang ins Jugendgefängnis, wo er straffällig gewordenen Jugendlichen, darunter auch einer Muslima, am Gründonnerstag die Füße wusch, sein Besuch in einer Psychiatrie oder zuletzt seine Begegnung mit Priestern, die ihr Amt verlassen haben – um auch ihnen zu zeigen, dass sie für die Kirche nicht einfach nichts sind. Und sich einmischen bedeutet für einen solchen Glauben, Störfaktor, und für den so Glaubenden ein Störenfried zu sein – in der Welt wie in der Kirche selber auch. Eben da in der Kirche tut es manchmal besonders not. Deswegen zögert Franziskus nicht, auch dort den Störenfried zu geben: Nicht zufällig hat er just vor vier Tagen in der Weihnachtsansprache an die Kurie den aggressiven Gegnern seiner Reformbemühungen und einigen theologischen Vollpfosten im Kardinalskollegium öffentlich nicht die Füße gewaschen, sondern – den Kopf. Hinter vorgehaltener Hand hoffen darum manche von ihnen, dass er bald das Zeitliche segnet. Am liebsten würden sie ihn wohl steinigen wie den Stephanus.

V
Stephanus ist als Märtyrer gestorben, weil er überzeugt war: Durch Jesus ist Gott der Welt nahegekommen, wie es näher nicht geht. Das heißt so viel wie: Stephanus ist gestorben, weil er an Weihnachten geglaubt hat. In seinem Ende spiegelt sich der Ernst, mit dem Gott sich auf uns Menschen einlässt. Darum ist sein Festtag mit dem Geburtstag Jesu aufs Engste zusammengewachsen, obwohl beide Tage ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Trotzdem wurde kein Widerspruch daraus. Vielmehr hilft uns Stephanus verstehen, was es bedeutet, zu bekennen: Gott wurde Mensch.

VI
Und noch etwas Anderes kommt hinzu: Aus der Apostelgeschichte wissen wir, dass die Steinigung des Stephanus sich zu einer schlimmen Verfolgung der ganzen Christengemeinde von Jerusalem auswuchs. Die Christen flohen in alle Himmelsrichtungen - nach Kleinasien, also der heutigen Türkei, in Richtung mittlerer Osten und auch bis weit nach Ägypten hinein. Das war das katastrophale Ende der ersten Gemeinde. Aber überall, wohin die Christinnen und Christen kamen, sagten sie auch in der Fremde das Evangelium von Jesus Christus weiter und bezeugten es durch ihren Dienst an denen, die seiner bedurften. So entstand weit weg von Jerusalem eine neue Gemeinde um die andere. Schon damals fing die Kirche an, Weltkirche zu werden. Viele Historiker sind sich heute einig, dass die beinahe explosionsartige Ausbreitung des Christentums in der Spätantike diesem Dienst an den damals Schwachen und Benachteiligten – besonders den Kindern, die Witwen, den Armen – verdankt ist, sozusagen dem Geist des Stephanus entsprang. Und wenn wir uns nüchtern in unserer Welt von heute umsehen, müssen wir wohl zugeben: Wir können gar nicht genug von diesem Geist des Stephanus haben. Und die Tatsache, dass die Christen aller Konfessionen die weltweit am meisten verfolgte Glaubensgemeinschaft sind, verrät, dass dieser Geist noch immer unverbraucht und lebendig ist. Das gibt Grund zur Dankbarkeit – dem Stephanus gegenüber und all denen, die heute sein Schicksal seines Zeugnisses teilen.