Lukanische Ars moriendi

10. So C: Lk 7, 11-17           

I
Wenn es nicht immer wieder – und in letzter Zeit vermehrt – in seriösen Medien berichtet würde, wäre man geneigt, es für einen auf Dauer gestellten Aprilscherz oder eine Medien-Ente zu halten: Ganze Kohorten von Computerspezialisten, Nano-Technikern, Biologen und Medizinern arbeiten an der Überwindung der menschlichen Sterblichkeit. Sie sagen: Unsere intellektuellen Kapazitäten seien  durch die digitalen Instrumente derart exponentiell gewachsen, dass es nun an der Zeit ist, diese geistige Power von ihren Einschränkungen durch den störanfälligen Leib und schließlich dessen Endlichkeit zu befreien. „Transhumanismus“ nennt sich diese Richtung. Ihre radikalsten Vordenker sitzen im Silicon Valley, einem Teil der San Francisco Bay Area. Einer von ihnen, der deutschstämmige Sebastian Thrun, fragt unverhohlen:
“Wer sagt, dass wir nicht tausend Jahre leben können, dass Autos nicht fliegen können?”
Und er meint das ernst. Andere sind noch bescheidener. Ihnen würde vorerst eine Verlängerung der menschlichen Lebensspanne auf 125 oder 150 Jahre reichen.

II
Ob wir das und Ähnliches wollen sollen oder wollen wollen, danach fragt eigentlich niemand mehr. Die milliardenschweren Tycoons, die dieser Ideen einer Überwindung unserer Sterblichkeit frönen, meinen in der Tat, sie hätten die Mittel in der Hand, um die ganze Welt in eine ihrer Ansicht nach bessere Zukunft zu führen. Sie gerieren sich als Erlösergestalten. Jaron Lanier, der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 2014 sieht Richtiges, wenn er den ganzen Komplex dessen, was die sogenannten Neuen Medien da induzieren, als “neue Religion”  etikettiert.

Die Propagandisten des Transhumanismus wollen nicht nur Franz Kafka Lügen strafen, der einmal geschrieben hat, das Charakteristische der Welt sei ihre Vergänglichkeit. Sie zielen auf nichts Geringeres als eine Gegenreligion gerade zum christlichen Glauben, denn der weiß um die Befristetheit alles Irdischen. Und er kennt darum so etwas wie ein Lob der Endlichkeit. Könnte es wirklich ein Ideal sein, 1000 Jahre alt zu werden? Oder auch nur 150? Man stelle sich nur einmal vor: 500 Jahre Putin, 100 Jahre Donald Trump oder auch nur 50 Jahre Kardinal Müller? Wir erlebten die Welt als gigantisches Gruselkabinett.

Ist nicht weitaus humaner und ethischer, auch dem nicht optimierbaren, dem angeschlagenen und verfallenden Dasein eine unverfügliche Würde zuzuerkennen? Und wenn jemand fröhlich und gesund alt wird – dass sie oder er dann lebenssatt unter dem Gesetz organischer Lebensspanne Platz macht für anderes Leben und dessen schöpferischen Reichtum?

Solche Gedanken leuchten natürlich nur ein, wenn völlig quer zu den Visionen der posthumanistischen Theoretikerinnen und Theoretiker dem Gedanken eine Verständigungskraft zuerkannt wird, dass das Leben jetzt unter weltlich-endlichen Bedingungen weder Gefängnis noch Warteort, sondern Bauplatz für die kreative Vorbereitung eines Daseins nach dem Tode sein könnte, eines Daseins in einer ganz anderen Dimension, in der sich das zufällig und geschichtlich Getane und Gelittene als unverlierbar und darum endgültig entpuppt, weil man von ihm, wenn es jetzt wirklich ist, unhintergehbar sagen kann, dass es einmal gewesen sein wird und ihm darum auch nach dem irdischen Enden eine Form von Wirklichkeit zugeschrieben werden muss. 

III
Genau dem geht der christliche Glaube in dem nach, das den alten Namen „Ars moriendi“ trägt, „Kunst des Sterbens“. Sie besteht in einer zutiefst angeeigneten Zustimmung zum eigenen Endlichsein. Und auch die Geschichten von zu Ende gekommenen, manchmal abgebrochene Lebensgeschichten werden untrennbar an eine Gotteshoffnung gebunden, die darauf setzt, dass alles menschlich Gelebte und Gelittene und sogar das Verfehlte noch zu einem guten Ganzen sich fügen in einer Wirklichkeit, die die biblischen Überlieferungen „neuen Himmel und neue Erde" nennen.

Die Ars moriendi übt im Gedenken an die Toten auch keine Jen-seitshoffnung, einen Platonismus fürs Volk, wie Nietzsche frozzelte, so als ob wir im Sterben nur die Pferde wechselten, um unter erleichterten Bedingungen mehr oder weniger weiter zu machen. Wohl aber traut sie dem gelebten Leben eine Innenseite zu, die an Gottes Ewigkeit rührt.

IV
Genau diese Hoffnung setzt auch unser Evangelium von vorhin ins Bild. Ins Bild einer Wundererzählung – weil es ja wirklich ein Wunder ist, wenn Menschen auch noch zur Endlichkeit, der eigenen und genauso derjenigen anderer, die sie lieben, „ja“ sagen können: Da kommt Jesus, gefolgt von den Jüngern und einer großen Menschenmenge, zur Stadt Nain. Vor der Stadt begegnet dieser Jesus-Zug einem anderen Zug, einem Gegenzug: dem Leichenzug mit der Mutter des jung Verstorbenen und den Vielen, die Anteil nehmen an ihrem Geschick. An der Spitze des Trauerzugs: die Bahre mit dem Leichnam. An der Spitze des Gegenzugs: Jesus. „Archegos tes zoes – Anführer des Lebens“ hat Petrus den Herrn einmal genannt nach Ostern, wie Apostelgeschichte Kapitel 3, Vers 15 festhält – und einige Kirchenväter der Spätantike sprechen vom „Christos choregos – Christus dem Chorführer“ und also Vortänzer, der die Prozession zum Leben hin anführt. Sie alle wussten genau, wovon sie sprachen. Leben und Tod begegnen sich da.

Den Tod hat Lukas dabei überscharf mit allen Zügen der Absur-dität ausgestattet, wie sie einen im Grunde an jedem Sterbebett anspringen können: Ein junges Menschenleben ging da zu Ende. Oft genug habe ich das erlebt in meiner Zeit als Seelsorger in Gemeinde und Gefängnis: der 16jährige, der ein paar Mädels imponieren will, von einer knapp ein Meter hohen Staustufe springt, mit dem Kopf aufschlägt und in der Wasserwalze ertrinkt; der 22jährige, der sich aus einer schauerlichen Kindheit zwischen Vernachlässigung, Gewalt und Pornographie herausarbeitet zum Fachhochschulabschluss, das nötige Geld nächtens als Taxifahrer verdient und dann durch einen betrunkenen Fahrer, der ihm die Vorfahrt nimmt, zu Tode kommt. Der junge Drogenhändler, der gerade auf dem Absprung ist, den Verlust seiner Freundin nicht verkraftet und sich aufhängt. Mein Gott! Was hätte nicht alles werden können daraus? Wie viele unein-gelöste Hoffnungen nimmt es mit sich hinab.

Aber mehr noch in Nain: Der einzige Sohn seiner Mutter war der Tote, der Sohn einer Witwe. Ihre ganze Hoffnung, vielleicht ihr Stolz, ihr Halt und ihre Sicherheit für das eigene Auskommen. Zieht dieser Tod der Frau nicht den letzten Rest Boden unter den Füßen weg? Wozu soll sie überhaupt noch leben? Frühchristliche und mittelalterliche Künstler haben genau das in ihren Bildern von dieser Geschichte gemalt: Die Häuser von Nain haben sie mit schiefen, verrutschten Wänden, Dächern und Fenstern dargestellt, wie wenn sie in einem schauerlichen Erdbeben tanzen würden, und das Gewand der trauernden Mutter hat meist die gleiche Farbe wie das Leichentuch des Sohnes. Will sagen: Der Tod hat ihr Leben schon vergiftet. Im Grunde ist auch sie schon tot, weil ihr ganzes Dasein, ihre Welt aus dem Lot geraten war. Inbild sinnlos gewordenen Lebens – diese Frau, der das Liebste genommen ist.

Nun aber – entscheidend, um dieses Evangelium nicht misszuverstehen –: Als der Herr diese Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr, schreibt Lukas. Nicht also den Toten sieht Jesus zuerst und wendet sich ihm zu, sondern der Mutter mit ihrer gebrochenen Existenz. Ihr Hingehen zum Grabe hält Jesus auf. Das tut er, indem er den Sohn anruft. Und was geschieht? Der Tote beginnt zu sprechen, sagt der Evangelist tief verschlüsselt. Der Tod, dieses verschlossenste Rätsel unseres ganzen Daseins, macht sich also vernehmlich, teilt sich mit und verbindet sich so wieder der Sphäre der Lebenden. Jesus hat ihn – den Tod – wieder hineingerufen in den Bereich des Menschlichen. Der Tod ist nichts, was das Menschsein ausstoßen müsste, um nicht vergiftet zu werden. Er gehört hinein und nur wer ihn darin lässt, dem wankt nicht der Boden unter den Füßen und stürzt nicht die Decke auf den Kopf. Ihn, den Tod, nicht nur seinen leiblichen, sondern den Tod in allen seinen vorweggenommenen Formen von Verlust und Ohnmacht und Verzicht darin lassen in unserem Lebenshaus, ihn annehmen als uns zugehörig, weil gerade so unser Dasein im rechten Maß und Lot bleibt, darauf kämen wir von selber nie. Denn in der angstbesetzten Not, uns selbst unser Dasein garantieren zu wollen, erfahren wir jeden Tod und jede Gestalt seines Vorscheins als unwiederbringliche Lebenseinbuße. Die kleinen und großen Tode annehmen können als etwas Menschliches, dazu braucht es einen, der genau weiß, was Menschsein heißt – und eben das weiß nur, wer Gott kennt – ebenso, wie wir das von Jesus bekennen.

V
Dass wir unser Evangelium als Inbild dieser helfenden Tat Gottes an der Mitte unseres Daseins lesen dürfen und gänzlich unterschätzten, wenn wir es für einen Bericht über ein Mirakel hielten, darauf verweist uns am Ende auch, wie Lukas die Umstehenden reagieren lässt: Von Furcht ergriffen, priesen sie Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten, Gott hat sich seines Volkes angenommen. Wäre es um eine Wun-dertat gegangen, die Leute wären entweder entsetzt geflohen oder sie wären wie Trauben um den wieder Lebendigen zusammengeströmt; sie hätten ihn betastet, bewundert, befragt. Und Jesus hätten sie auf die Schultern gehoben und gefeiert als Wunderheiler, zumindest hätten sie dieses Ereignis von jetzt an als Erweis seiner Macht und Autorität gelten lassen. Doch nichts von all dem: Ihre Reaktion besteht im Lobpreis Gottes. Und Jesus nennen sie einen großen Propheten – also einen, der kundtut und anschaulich macht, was Gottes Wille ist: dass wir lernen, Menschen zu werden, lernen, unser Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende menschlich zu leben – auch dort noch, wo uns Leid, Ohnmacht und einmal der Tod widerfahren. Unser Evangelium sagt dazu nicht weniger als dies: Dass es möglich ist, von Gott her solche Beirrungen meines Lebens anzunehmen ohne Angst und Verzweiflung. Und dass gerade durch solche Annahme unser Leben ins Lot kommt, weil wir nicht mehr alle Kräfte verbrauchen, um das Bedrängende draußen zu halten. Wenn das keine gute Nachricht ist, kein Evangelium, was dann?