Licht von innen

Ostermontag C: Lk 24, 13-35   

                
I
Ostern ist gekommen. 50 Tage feiern wir die Mitte unseres Glaubens. Festliches, Freude und, ja, auch Fröhlichkeit gehören zu diesen sieben Wochen. Mittelalterliche Prediger haben das nicht selten so richtig inszeniert, indem sie – zum Teil deftige – Witze erzählten, um in der Gemeinde das Osterlachen zu wecken. Das alles aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass zu Ostern auch ein tiefer Ernst und so etwas wie ein Hauch von Melancholie gehört. Gerade an dem Evangelium des ersten Tages nach der Osternacht, also heute, wird das fühlbar: an der berühmten Emmaus-Geschichte.

II
Einer der größten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts, der bis heute zugleich zu den Verkanntesten zählt, nicht zuletzt auch, weil er mit 63 Jahren zum Katholizismus konvertierte, hat das mit dem Sensorium des Poeten punktgenau ins Wort gebracht: Alfred Döblin. In einem seiner autobiographischen Werke schrieb er:
Als ich zu Beginn meiner Schicksalsreise in Frankreich einem Gottesdienst – damals von außen – beiwohnte, wunderte ich mich über seinen schweren, traurigen Charakter. Das Christentum verkündet doch die frohe Botschaft, nicht nur Tod, auch Auferstehung. Aber ich erkannte, dass von Trauer eigentlich nicht die Rede war. Die Menschen, die dem Glauben anhängen, zerstreut und verspielt, ja kindisch wie sie sind, müssen erst an die Wirklichkeit, zum Ernst und an große, ja größte Wahrheiten herangeführt werden. Hier musste Feierlichkeit, Ehrfurcht und Demut gefordert werden. […] Da ist auch Platz für einen ehrfürchtigen, bittenden Ernst. Der Quell war da für Liebe, Glück, Friede und Schönheit. Das konzentrierte Licht war und ist da.

III
Fast möchte man meinen, Döblin habe, als er diese Zeilen zu Papier brachte, das Emmaus-Evangelium vor Augen gestanden: Die Jünger gehen voller Trauer weg von Jerusalem, dem Ort des Desasters, des Endes all ihrer Hoffnungen. Danach der Unbekannte, der sie nach dem Grund ihrer Niedergeschlagenheit fragt und der dann, nachdem sie es ihm gesagt haben, diese Katastrophe mit dem Prediger aus Nazareth, ihren Blick auf die Schrift lenkt, also den Tenach, die jüdische Bibel. Von Mose an – also beginnend mit dem Pentateuch, den ersten fünf Büchern der Bibel – und durch alle Propheten hindurch deutet er ihnen aus, dass das, was mit diesem Jesus geschehen ist, kein Unfall war, sondern ganz und gar zusammenpasste mit der gesamten bisherigen Glaubensgeschichte Israels. Der Gott, der sich immer und immer wieder als so treu und geduldig erwiesen hat – nach der Sintflut, in Ägypten, im babylonischen Exil –, der Gott, von dem manche Propheten wie ein Hosea sagten, dass es in seinem Herzen vor lauter Liebe zu einer buchstäblichen Revolution zugunsten des Menschen kommt, in der sich seine Gerechtigkeit immer nochmals von seiner Barmherzigkeit besiegen lässt: dieser Gott ist auch der Gott des Karfreitags. Will sagen: Im Abgrund der Golgota-Stunde, da äußerlich gesehen alles aus scheint, findet sich Jesus in den bergenden Händen dessen wieder, den er liebevoll „Abba“ nannte. Er selbst hatte ja gesagt, dass Gott, wenn und weil er sich Jahrhunderte nach dem Tod der Stammväter am Dornbusch den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nennen konnte, niemals ein Gott der Toten sein könne, sondern dass die, die in Menschenaugen tot sind, in Gott unvergänglich leben, weil eingeschrieben in seinen eigenen Namen, der da heißt. Ich bin der Ich-bin-da-für-Euch, der ich immer für euch dasein werde.

Und von diesem neuen Ort aus ist er von neuem bei den Seinen, stärkt und ermutigt sie, sendet sie aus als seine Boten, die den Menschen aller Welt sagen dürfen: Nie, nie werdet ihr verloren sein, wann immer nur ein Hauch dessen euer Leben prägt, was mir das Wichtigste war: die Liebe. Und Liebe ist dabei gar nichts Romantisches, Gefühliges, sondern – sehen Sie mir bitte diesen Ausdruck meines Faches nach – etwas Metaphysisches. Denn, um es mit einem Wort zu sagen, das auf die Johannesbrief-Kommentare des Kirchenvaters Augustinus zurückgeht, – Liebe heißt: Einer oder einem sagen: Ich will, dass du bist. Dass es Dich gibt, mit allem, was zu Dir gehört. Auch mit den dunklen Seiten, die ich vielleicht nicht verstehen kann.

Eben diese Zusage hatte er im Abendmahlsaal an das Zeichen des gebrochenen Brotes gebunden. Das hatten sie damals vermutlich noch nicht so richtig verstanden. Aber als er eben dieses Zeichen jetzt wiederholt, da gingen ihn die Augen auf, heißt es. Und dann sahen sie ihn nicht mehr. Weil man, was Liebe heißt, nicht fixieren, nicht begreifen kann im buchstäblichen Sinn. Anders gesagt: Was Ostern meint, kann man nur mit den Augen des Herzens sehen.

IV
Das konzentrierte Licht war da und ist da, schrieb – wie vorhin zitiert – Döblin gegen Ende seiner Gedanken über den christlichen Gottesdienst, dem er beiwohnte. Eine fast sprachlos machende Bestätigung findet dieser Gedanke in einem Kunstwerk des österreichischen Bildhauers und Graphikers Alfred Hrdlicka. Es gehört zu seinem berühmten Werk Plötzenseer Totentanz, das sich im Evangelischen Gemeindezentrum Plötzensee in Berlin befindet. Das ist nicht weit entfernt vom Strafgefängnis Plötzensee, in dem die Nazis 2891 Menschen hinrichteten, und in unmittelbarer Nachbarschaft der katholischen Kirche Regina Martyrum mit dem riesigen Apokalypse-Fresko von Georg Meistermann, einem anderen Künstler der Sonderklasse.

Hrdlicka, bekennender Kommunist, berühmt und berüchtigt für seine drastische Ästhetik, aber darin auch unübertroffen, hat da in Schwarz-Weiß-Grau-Koloratur Bildtafeln der Passion in der Bildsprache des Plötzenseers Gefängnisses geschaffen, die unter die Haut gehen: Wie da etwa Gefangene malträtiert und schließlich an Fleischerhaken aufgehängt wurden, die man heute noch in Plötzensee sehen kann. Lauter Christus-Brüder.

Als Hrdlicka diesen Auftrag erhielt, fragte man ihn auch, ob er zu den ganzen Passionsbildern, die ihm von der Hand gingen, weil er wohl dem Leiden des Menschen aus eigener Erfahrung innerlich nahe war, auch ein österliches Hoffnungsbild schaffen könne. Das brachte ihn in tiefe Verlegenheit. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendwie ein Osterbild zu malen, einen Auferstandenen im Stil etwa eines Grünewald. Bis man ihn auf die Emmausgeschichte hinwies. Die hat ihn gepackt und aus ihr ist eines seiner beeindruckendsten Werke hervorgegangen: Da schaut man in die Gefängniszelle mit zwei Fensteröffnungen, wie man sie eher aus romanischen Kirchen kennt. Auf der linken Seite führt ein Scherge, erkennbar an der Dienstmütze, im Halbdunkel einen Gefangenen ab, vermutlich zur Exekution. Rechts davon sitzen sechs Gefangene, drei links, zwei rechts, einer in der Mitte zwischen den beiden Fenstern. Und der bricht das Stückchen Brot, das er hat, für die anderen. Das sieht man kaum, aber seine Gestalt wirkt, als wenn sie durch ein Licht von innen strahlen würde.

V
Genau das ist Ostern: Mitten in äußerster Bedrängnis und Not fängt etwas zu leuchten an, weil da ein Mensch anderen in Güte begegnet, obwohl er sich selbst in Not befindet. Brotbrechen, also Teilen, ist der menschliche Grundakt, in dem Ostern – das Dementi, dass Tod und Untergang das letzte Wort haben –, sich immer neu vergegenwärtigt. Von daher drängt sich mir eine Frage auf, die im ersten Augenblick verwegen klingen könnte, aber in Wahrheit vielleicht nur selbstverständlich ist. Sie lautet: Könnte es sein, dass wir momentan in einer besonders österlichen Zeit leben, weil wir durch die Ankunft der Flüchtlinge auf Schritt und Tritt Gelegenheit haben, das Brot zu brechen? Die Probleme, die damit im Einzelnen verbunden sein mögen, sind damit nicht vom Tisch. Wahrlich nicht. Und über sie muss auch politischer Streit geführt werden. Und trotzdem: Könnte nicht sein, dass Europa, unsere Heimat, jetzt vor der einzigartigen Herausforderung steht, seine christlichen, ja, seine österlichen Wurzeln zu bewahrheiten? Es kann ruhig so säkular geschehen wie in Hrdlickas Emmausbild. Hauptsache, es geschieht überhaupt.