Jesu Ewigkeit

Trauergottesdienst für Prof. Dr. Harald Wagner, 16.06.2016: Mk 12, 18-27


I
Wieder tragen wir einen unserer Kollegen zu Grabe. Am 07. Juni hat Gott Herrn Prof. emeritus Dr. Harald Wagner nach langer Krankheit zu sich heimgeholt. Da ging eine Leidenszeit zu Ende, die wir Kolleginnen und Kollegen an der Katholisch-Theologischen Fakultät zunächst in Mitgefühl, dann mit Beklemmung und schließlich in Bestürzung miterlebt haben, sofern zu Harald Wagner noch Kontakt bestand.

II
Als Harald Wagner 1994 nach Münster kam, war er schon längst ein arrivierter akademischer Lehrer und Theologe, bis in hohe kirchliche Kreise bestens vernetzt, geschätzt als Fachmann für Fragen der Ökumene, so sehr auf Du und Du mit hierarchischen Instanzen, dass er zusammen mit seiner hochbetagten Mutter einmal am Morgengottesdienst von Papst Johannes-Paul II. in dessen Privatkapelle teilnehmen durfte und später von seinem ehemaligen Kollegen Joseph Ratzinger in dessen Funktion als Petrusnachfolger Benedikt XVI. bei einer Audienz persönlich begrüßt und ins Gespräch gezogen wurde. Das hat dem damals bereits an den Rollstuhl Gefesselten wohl getan.

Als ich selbst 1995 nach Münster kam, war Harald der erste, der mich persönlich einlud. Schnell landeten wir in Erinnerungen an Römische Studienzeiten, aus denen es trotz der zeitlichen Verschiebung von zehn Jahren und unserer Zugehörigkeit zu verschiedenen Studienhäusern eine Vielzahl von Menschen und Ereignissen gab, deren Kenntnis wir teilten. Von anderen wusste ich bereits, dass Harald Wagner in seiner Zeit am Germanicum und an der Gregoriana als Ausbund der Vitalität und Kreativität galt, als jemand, der Theateraufführungen leitete, Exkursionen organisierte, überaus gesellig war und sich mit scharfsinnigen Kommentaren in Fachdiskussionen einmischte.

All das war ihm freilich nicht in die Wiege gelegt worden. In der Endphase des II. Weltkriegs 1944 in Benisch/Kreis Freudenthal, also im Sudentenland geboren, teilte er das bittere Schicksal der Flüchtlingskinder. Gleichwohl verliefen dann die Wege seiner schulischen Bildung und der nachfolgenden Studien in Frankfurt St. Georgen, München, Rom und wiederum München inklusive der Priesterweihe 1968 für das Bistum Limburg idealtypisch. Durch den frühen Verlust seiner einzigen Schwester und dann den Tod des Vaters trat neben die berufliche Herausforderung als Dozent, zunächst in Schwäbisch Gmünd, dann in Marburg und Fulda und schließlich von 1994-2009 in Münster die stete Sorge um die Mutter, die er in ihren letzten Lebensjahren hierher zu sich nach Münster holte.

Sein Forschungs- und Lehrschwerpunkt waren der Frühkatholizismus und die Ökumenische Theologie. Der Großteil seiner Publikationen – 7 Monographien, ca. 100 Aufsätze und ebenso viele Rezensionen – waren diesen Themenfeldern gewidmet. Er war überzeugt, dass der Geist der Ökumene im Sinn des II. Vatikanischen Konzils weiterentwickelt und der Austausch der Theologen interkonfessionell gefördert werden müsse bis dahin, dass einmal und endlich die Gemeinschaft beim Abendmahl Wirklichkeit werde. Seine Arbeit an der Auslegung und Übersetzung der christlichen Botschaft in das Heute der jetzt Lebenden hat er nicht nur an den drei Orten seiner Lehrtätigkeit in Deutschland geleistet, sondern gleichermaßen in Gestalt von Gastprofessuren in Europa, den USA und Hongkong. Darüber hinaus hat Harald Wagner auch die Gesellschaft für Ethik und Medizin mitbegründet, als deren Präsident von 1994-1996 er zahlreiche einschlägige Tagungen organisiert und Publikationen auf den Weg gebracht hat. Ein Schlaganfall, der ihn 2006 an den Rollstuhl fesselte, hat ihn bis zur Pensionierung nicht von seiner Lehrtätigkeit, seiner Mitarbeit beim kirchlichen Hörfunk und von der Zelebration der Hl. Messe abgehalten. In seiner Münsteraner Zeit war er zudem über lange Jahre nicht nur Prediger und Zelebrant in der Dominikanerkirche, dem Versammlungsort der Münsteraner katholischen Universitätsgemeinde, sondern von 1996 bis 2009 auch Schriftleiter der Theologischen Revue, eines der renommiertesten theologischen Rezensionsorgane deutscher Sprache.

Die zunehmende gesundheitliche Beeinträchtigung der letzten Lebensjahre hat er mit Geduld und Gottvertrauen ertragen. Nicht zufällig hatte er sich am 06. Mai 2009 mit einer Vorlesung zu dem (von Martin Luther stammenden) Thema „Crux probat omnia“ (Das Kreuz ist der Prüfstein für alles) aus dem aktiven Hochschuldienst verabschiedet – und so sein Lebensgeschick gleichsam unter das Christus-Zeichen und die von ihm verheißene Hoffnung gestellt.

III
Wenn ein Leben Stück für Stück zerfällt und dann erlischt, ist es besonders wichtig, nicht nur das Ende, sondern das Ganze zu sehen. Der Dichter Ernst Wichert schrieb einmal: Mitunter, wenn ich mit Vorstellungen spiele, denke ich mir, dass jedes Leben sich darstellen ließe durch die Aufreihung der Kleider, die man getragen hat. Eine lange Stange in einem großen leeren Raum, und auf ihr hingen am Beginn das erste Kinderkleid und am Ende das Totenhemd. Und dazwischen käme eins nach dem anderen, was uns einmal bekleidet hat... Und darunter stünden alle Schuhe, die wir abgetragen haben, still nebeneinander, und unsichtbar hinge über ihnen die Wolke des Staubes, die ihren Erdenweg bedeckt hat.

IV
Man muss dieses Bild des Dichters nur wirklich einmal nachvollziehen: der leere Raum, die lange Kleiderstange – und auf ihr der Reihe nach alle Kleider meines Lebens. Als Kind, vom ersten Schultag, der Erstkommunion, die Arbeitsgewänder, das Hochzeitskleid, das erste Messgewand bei der Primiz, alles, was ich bisher getragen habe. Da fängt man zu ahnen an, was alles schon zum Leben gehört hat, wie vielgestaltig es war, auch wenn vielleicht im Grunde nur ganz selten etwas Besonderes geschah. Und ganz von selber wird dieses Gewicht an gelebtem Leben, das einem da vor Augen tritt, die Frage aufwerfen: Was war und ist das alles im Letzten wert? Wird es einfach zerfallen und verwehen? Oder bleibt etwas davon? Und was und wo?

IV
Seltsamerweise nimmt sich die Antwort, die die Bibel auf diese Frage gibt, im Vergleich zu dem, was Menschen so alles glauben, geradezu spröde aus. Schon für das Alte Testament gilt das, das erst an seinen späten Rändern ausdrücklich auf diese Frage des Jenseits zu sprechen kommt. Zum Frappierendsten aber gehört dabei das Evangelium, das wir vorhin gehört haben. Da gerät Jesus mit einigen Sadduzäern aneinander, besser gesagt, diese suchen ihn lächerlich zu machen. Sadduzäer waren in der Regel wohlhabende Leute. Sie stellten auch die offiziellen religiösen Wortführer. Klar, dass einer solchen Schicht nicht sonderlich an Reformen und Erneuerung gelegen war. Darum hatten die Sadduzäer allen Grund, diesen aufmüpfigen Laienprediger aus der Galiläischen Provinz da in die Schranken zu weisen.

Sie hatten wohl gehört, dass Jesus – wie die Pharisäer – davon sprach, dass mit dem Tod nicht einfach alles aus ist, sondern der Mensch in seinem irdischen Ende vor Gott tritt, um von Gott in eine Unvergänglichkeit hineingeholt zu werden. Was freilich auch heißt, dass die Weise, wie einer hier lebt, dort nicht gleichgültig sein wird. Das war den Sadduzäern unangenehm. Darum suchen sie, Jesu Rede von einer Auferstehung lächerlich zu machen – und zwar mit einer raffinierten Methode: Sie konstruieren aus einem geltenden Gesetz, das ja auch Jesus bejaht, einen Widerspruch zu dieser Botschaft.

Dieses Gesetz lautet: Wenn ein Mann, der verheiratet ist, stirbt, ohne Kinder zu hinterlassen, dann ist sein nächster männlicher Verwandter verpflichtet, die Frau zu heiraten, um dem Verstorbenen stellvertretend Nachkommenschaft zu sichern. Eine Vorschrift, die mit dem dauernden Bedroht sein von Israels Existenz zu tun hatte und in diesem Zusammenhang durchaus sinnvoll war, ja sogar Ausdruck des Vertrauens, dass Gott sein Volk nicht werde untergehen lassen. Unter dem Vorzeichen dieses Gesetzes nun spielen die Sadduzäer einen Fall durch, der durchaus skurril anmutet in seiner Überzogenheit. Der älteste von sieben Brüdern heiratet, stirbt ohne Nachkommen, der zweite tritt in seine Pflicht ein, stirbt auch, dann der dritte und so fort bis zum siebten. Also, Rabbi Jesus, wer wird denn dann mit der Frau in der Welt der Auferstehung verheiratet sein, wenn alle sieben es rechtmäßig auf Erden waren?

V
Mit Jesu Antwort hatten die Sadduzäer gewiss nicht gerechnet. Sie heißt nämlich: Mit gar keinem wird sie verheiratet sein. Weil es in der Ewigkeit kein Heiraten mehr gibt – und auch kein Sterben. Oder anders gesagt: Sterben und in die Ewigkeit eingehen heißt nicht, gleichsam die Pferde wechseln und anderswo unter anderen, nämlich erleichterten Bedingungen weitermachen wie bisher – so spottete schon der Philosoph Arthur Schopenhauer einmal. So radikal verschieden Gott von der Welt ist, so verschieden ist das Bleiben vor ihm von dem Sein auf Erden hier. Nach dem Tod kommt nichts, sagt Jesus, nichts, was Leben heißt im Sinn des Lebens dieser Welt, die dem Gesetz vom Werden und Vergehen, Fruchtbarkeit und Untergang folgt. Alles weitere Spekulieren erübrigt sich. Es gibt keinen Beweis für die Ewigkeit und keinen gegen sie, den Menschen von sich aus führen könnten.

Aber, Jesus fügt hinzu: Einen Beweis, wenn man so sagen darf, einen gibt es doch, einen für die Auferstehung und die Ewigkeit: Gott selbst. Dazu erinnert Jesus seine Widersacher an die Geschichte vom brennenden Dornbusch. In dieser Geschichte trägt Gott einen seltsamen Namen: Er heißt dort nicht „Höchstes Wesen“, „König“ oder „Urgrund“, sondern Mose nennt ihn: „Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.“ Also: In den Namen Gottes gehören Menschen hinein: Menschen, die Gott suchten, sich bei ihm bargen, ihr Leben erwanderten in Glück und Not, Freude und Schuldigwerden sogar. Aber immer mit IHM. Sie alle hatten sich während ihrer Lebtage ganz in Gottes Hand gegeben. Darum steht ihr Leben auch jetzt, nach seinem irdischen Ende immer noch bei Gott, obwohl sie menschlich gesehen längst tot sind. Alle Geschichten ihres Lebens sind bei ihm aufgehoben – so sehr, dass Gott sein innerstes Wesen aussprechen kann durch die Namen dieser Menschen, weil er sich selbst durch ihre Bereitschaft dazu hat in ihre Geschichten verstricken, sich ihrem Portrait gleichsam einzeichnen können. Wie sie gelebt, was sie erlebt haben, verrät etwas davon, wie und wer Gott ist. Und wenn Menschen so in das Geheimnis Gottes hinein gehören können, will Jesus sagen, dann sind sie trotz ihres irdischen Todes so ewig wie dieser Gott ewig ist, wenn er denn Gott ist. Vor Gott sind sie alle lebendig, weil er, der Ewige, der Unvergängliche, sie in sein Innerstes hat hinein nehmen können. Die irdisch Lebenden und die Verstorbenen: lebendig in Gott – und nur dies.

Und natürlich ist es kein Zufall, dass Jesus im Disput mit den Sadduzäern gerade an die Dornbuschszene erinnert. Denn dort begann ja das Abenteuer des Auszugs aus Ägypten, aus dem Totenhaus der Sklaverei ins gelobte Land der Freiheit hinüber. Und dort fing an, was im Bundesschluss am Gottesberg gipfelte mit Gottes unbedingter Treue-Zusage. Wenn Gott Gott ist, heißt das unterm Strich, dann ist er das absolute Gegenteil von Nichtsein; das hat sich oft genug erwiesen auf den Wegen Israels. Und wenn sich dieser Gott mit dem Menschlein verbündet, mit dem zerbrechlichen und vergänglichen, dann geht es trotz und samt seiner Vergänglichkeit nicht einmal in seinem Ende unter. Wer an diesen Gott glaubt, lebt ewig, weil es für diesen Gott nichts Totes gibt und geben kann.

VI
Das lehrt Jesus diejenigen, die ihm glauben, vom Jenseits zu denken. Es ist nicht irgendwo. Es ist nicht irgendwas. Und es ist kein zweites Leben ähnlich dem ersten. Sondern: Unser Jenseits ist – Gott selbst. Auch als Gestorbene bleiben wir mit allem, was wir getan und gelitten haben, bleibt unsere Lebenspur aus dieser Welt geborgen und bewahrt in ihm. Auch unser Sterben geschieht darum in seiner Hand, nicht außerhalb. Weil es ein solches „Außerhalb bezogen“ auf Gott gar nicht geben kann. Darum dürfen wir bei aller Trauer, die menschlich ihr Recht hat, unsere Lieben und heute Harald Wagner getrost gehen lassen – und dem eigenen Ende mit Zuversicht entgegen gehen.