Das offene Magnificat

Aufnahme Mariens in den Himmel A: Lk 1,39-56

I
Mehrfach war ich schon in Konzerten des Klezmer Giora Feidman, zuletzt im Januar dieses Jahres. Klezmer sind jüdische Hochzeitsmusikanten, die auf der Klarinette spielen. Die Juden sagen bis heute zu ihnen nicht: Klezmer, spiel die Klarinette, sondern: Klezmer, sing die Klarinette. Das Instrument wird zur Stimme, die Freude, Hoffnung, Liebe, Trauer in Töne fasst und ohne Worte erzählt. Wer Feidman eine kleine Weile zuhört merkt, dass es das wirklich gibt. Und manchmal scheint es, dass die Töne aus der Klarinette genauer treffen als Worte das vermögen.

II
Feidman, mittlerweile über 80 Jahre alt, erzählte auch einmal, wie er das Klezmerspiel gelernt hat: Sein polnischer Lehrer ließ ihn stundenlang mit der Klarinette Zeitungsnachrichten kommentieren. Seine Kunst besteht darin, das Inwendige der Worte hörbar zu machen, das, was sie in sich tragen, ohne es sagen zu können. Wie klingt Freude, wie Wehmut, wie Trauer, wie Glück? Gelingt dem Klezmer diese Übersetzung, rührt er seine Hörer in der Seele an.

III
Ganz ähnlich muss man sich das bei vielen Dingen unseres Glaubens vorstellen: Es gibt Worte für Gott und Glaube, für Gnade, Sünde, Barmherzigkeit. Aber ihr Inwendiges! Vielleicht muss man sie auch vorsichtig in Töne, wenigstens innere Töne übersetzen, um zu verstehen, wovon sie eigentlich sprechen.

In besonderer Weise gilt das wohl gerade von dem, was wir heute feiern: Die Aufnahme Mariens in den Himmel oder „Mariä Himmelfahrt“, wie der Tag im Volksmund heißt. Bleibt jemand bei diesen Worten stehen, bei dem, was sie mit ihren Buchstaben sagen, hat er oder sie sich im Grunde schon verlaufen, versteht vom Geheimnis dieses Festes nichts und fängt eines Tages vielleicht sogar zu spötteln an, was denn die Katholiken für einen Unsinn zusammenglauben.

Auf das Inwendige der Worte aber kommt es an! Maria ist mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. Das Besondere an Maria war: Sie hat sich und ihr Leben ganz Gott zur Verfügung gestellt, hat der Stimme des Engels, also dem, was Gott mit ihr vorhatte geglaubt, hat sich führen lassen von dem, was ihr Lebensgeschick ausmachte – alles im Glauben, in all dem von Gott gehalten zu sein. Ein Leben aber, das so ganz Gott zur Verfügung steht, wird von ihm ganz durchflutet, wird mit ihm so eins, dass nichts mehr Trennendes zwischen dem Menschen und Gott besteht.

Wenn ein Menschenleben so sehr Gott entspricht und zu ihm gehört, ändert daran auch das irdische Ende, das Sterben dieses Menschen nichts mehr. Er bleibt mit seiner ganzen Lebensgeschichte, mit dem, was er durch seinen Leib auf Erden gewirkt und getan hat, bei Gott bestehen. Nichts davon geht verloren, weil was einmal zu Gott gehört, in ihm unverlierbar erhalten bleibt. Ein Leben, das ganz – mit Leib und Seele – bei Gott.

IV
Man erzählt: Als fromme Christen eines Tages den Sarg Mariens öffneten, hätten sie darin nicht den Leichnam, sondern frische blühende und duftende Blumen gefunden. Daher rührt die Kräuterweihe, die zu diesem Festtag gehört. Eine Legende natürlich, Worte, die mit Bildern auszudrücken suchen, was eigentlich gemeint ist, so ähnlich wie bei Feidmans Klezmer-Spiel die Töne das tun. Die Legende will andeuten: Wer auf Gott hin und für ihn gelebt hat, erlebt selbst noch sein irdisches Ende nicht als Vernichtung, sondern als ein Neuwerden. Er lebt sogar in dem noch, wo man – von außen gesehen – nur toten Staub erwarten würde.

V
Das feiern wir heute, weil dieses Lebendigbleiben in Gott nicht auf Maria beschränkt ist. Von ihr dürfen wir es schon mit Gewissheit glauben. Zugesagt aber ist es allen, die sich Gott verbinden. Also uns auch. Vielleicht sind andere – z. B. solche, die wir Heilige nennen – auch schon ganz bei Gott. Oder auch noch andere, von denen das keiner bis heute weiß, vielleicht Menschen, die irdisch gesehen drüben auf dem katholischen Friedhof liegen. Das ist auch zweitrangig. Um das Dabeisein geht es. Und das steht uns genauso offen. Je mehr wir uns an Gott hängen und offen halten für das, was er uns zudenkt, desto näher rücken auch für uns der Himmel und die Erde zusammen. Indem wir glauben, sind wir schon unterwegs dorthin, wo Maria lebt.

Als Maria einmal selbst davon sprach, was Gott tut und für sie bedeutet, hat sie das nicht mit normalen Worten getan, sondern ein Lobgebet gesprochen, eine Art Gedicht. Es ist das „Magnificat“ – unzählige Male vertont. Wenn Christinnen und Christen es nachbeten, singen sie es zumeist. Es ist auch Bestandteil des täglichen Abendgebetes der Kirche, der sogenannten Vesper des Stundengebetes, also des Breviers. Die Töne lassen uns das Inwendige ahnen – welches Glück es ist, mit Gott so eng auf Du und Du zu sein wie Maria. Es wird gut sein, dass wir manchmal das Magnificat beten oder singen, damit wir nicht vergessen, was auf uns wartet.

VI
Wenn man die Verse dieses Magnificat ein wenig näher anschaut, merkt man schnell: Es besteht fast nur aus kurzen Zitaten aus dem Alten Testament. So kommt zum Ausdruck: Die Sehnsucht und die Hoffnungen, die in der Glaubensgeschichte Israels über die Jahrhunderte glühten, sammeln und verwirklichen sich in demjenigen, der bald aus Maria geboren werden soll. Das bedeutet: Das Magnificat ist nach hinten offen bis zum Anfang der Heilsgeschichte, also bis zu Abraham.

Und wenn man noch genauer auf Maria und das Magnificat blickt, merkt man: Dieses Offensein reicht noch viel weiter, weit, ganz weit über Israel hinaus, sozusagen in die Urzeiten davor noch zurück, aber auch in die Zeiten nach vorne, die der Maria-und-Jesus-Geschichte folgen sollten. Nur so lässt sich erklären, dass der Bildtyp Mariens vor- und nachchristlich auch jenseits der christlichen Traditionen bis heute in unverbrauchter Lebendigkeit begegnet. Auf wunderbare Weise klingt das auf in einem Werk des Komponisten Wilfried Hiller, das letzten März hier in Regensburg in der Dreieinigkeitskirche zu seiner Zweitaufführung kam. Die Komposition heißt einfach Hoffnung. Ihre zweite Strophe ist überschrieben mit Invocationes – Anrufungen:

Amaslai, Mutter von Abraham.
Johebed, Mutter von Moses.
Teje, Mutter von Echnaton.
Dugdora, Mutter von Zarathustra.
Zengzai, Mutter von Konfuzius.
Maya, Mutter des Buddha.
Amina, Mutter von Mohammed.
Maryam, Mutter von Mani.
Maria, Mutter von Jesus.

Königin des Friedens.
Gate of Heaven.
Zuflucht der Armen.
Heil van de zieken.
Mère aimable.
Virgen ponderosa.

Tour d´ivoire.
Speculum iustitiae.
Rosa mystica.

Trost der Trauernden.
Savior of the migrants.
Panno leskawa.
Cause of our Joy.
Maison d´or.
Getrouwe maagd.

Morgenstern.
Brana do neba.
Seat of wisdom.
Quelle der Zuversicht.
Hafen der Schiffbrüchigen.
Licht der Betrübten.

Knotenlösende Madonna!


VII
Der letzte Ruf – Knotenlösende Madonna – bezieht sich auf ein Bild in der Wallfahrtskirche St. Peter am Perlach im Bistum Augsburg. Berühmt geworden ist es in den letzten Jahren dadurch, dass Papst Franziskus es liebgewonnen und dieses Motiv nach Lateinamerika gebracht haben soll. Das mag stimmen oder nicht. Wichtiger ist das Motiv selbst: Die Mutter Gottes hilft uns, die Knoten unseres Lebens aufzudröseln. Und wodurch? Durch ihr Gottvertrauen und das Magnificat. Auch den letzten Knoten, den härtesten unseres Lebens löst sie so – den Knoten des Sterbens. Wer Marias Glauben Stück für Stück einübt, der muss sich auch davor nicht fürchten. Das feiern wir heute.