Forschung am ICS

Vorstellung der Disziplin

Christliche Sozialethik ist theologische Ethik der gesellschaftlichen Institutionen. Sie stellt die Frage nach ihrer gerechten Gestalt und nach den Bedingungen, unter denen ein gutes Leben für alle möglich ist. Christliche Sozialethik stellt diese Fragen im Kontext der wissenschaftlichen Theologie. Theologie nimmt in ihrem Denken die Glaubensüberzeugung von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ernst, geht von der unbedingten Solidarisierung Gottes mit seinen Geschöpfen aus und denkt in der Perspektive des Heilswillens Gottes für alle Menschen. Eine solche Theologie muss auch in ihrer Theoriearbeit nahe bei den Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit sein. Deshalb kann sie nicht auf eine Disziplin verzichten, die diese konkrete Lebenswirklichkeit in ihren sozialen Bedingungen und institutionellen Entfaltungen auf ihre ethische Qualität hin prüft und begleitet. Eben dies ist Anliegen und Aufgabe einer christlichen Sozialethik.

Ihr Grundthema ist also die menschliche Existenz in ihren Leben-stiftenden und Leben-erhaltenden sozialen Bezügen, in ihren Bedingtheiten und Zweideutigkeiten. Dabei reflektiert sie insbesondere die Erfahrung, dass in der von Menschen gestalteten Welt nicht alles zum Besten bestellt ist und das Miteinander-Leben im Kleinen wie im Großen nicht "automatisch" gelingt. Christliche Sozialethik denkt realistisch und nimmt die Erfahrung ernst, dass menschliche Existenz individuell wie in ihren sozialen Bindungen und institutionellen Abhängigkeiten der Spannung zwischen Gelingen und Scheitern unterliegt. Diese Erfahrung ist aber nicht einfach "Schicksal". Philosophisch- und theologisch-ethisches Nachdenken deckt auf, dass die Ambivalenz von Gelingen und Scheitern zu tun hat mit Freiheit als Grundvoraussetzung und Gerechtigkeit als Zielperspektive des Handelns im sozialen Zusammenhang: Dank der Freiheit funktionieren Menschen nicht einfach, sondern handeln und entscheiden. Sie schaffen gesellschaftliche Strukturen und üben Macht aus. Freiheit ruft nach Verantwortung, aber sie schließt auch Unverantwortlichkeit nicht aus. Gerechtigkeit muss je neu errungen, um sie muss gestritten werden – in den personalen Beziehungen wie in den gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen; durch die Verabsolutierung von Eigeninteressen, von partikularen Zielsetzungen, durch die Verfolgung sittlich fragwürdiger Ziele kann sie aber auch unterlaufen und zu grober Ungerechtigkeit verkehrt werden. Gerechtigkeit wird immer nur annhäherungsweise, nicht endgültig und vollkommen erreicht werden.

Christliche Sozialethik ist dieser Aufgabe verpflichtet. Sie erarbeitet und begründet Maßstäbe und Kriterien gerechter Praxis. Sie fragt nach Möglichkeiten und Strategien, gesellschaftliche Prozesse, politische und ökonomische Entscheidungen auf das Ziel gesellschaftlicher Gerechtigkeit auszurichten. Das heißt vor allem: Ihr Nachdenken dient dem Ziel, ein Mehr an Gerechtigkeit, an Lebenschancen und personalen Entfaltungsmöglichkeiten für alle zu eröffnen. Ein zentraler Prüfstein, ob eine politische oder wirtschaftliche Entscheidung diesem Ziel dient, ist die Verbesserung der Situation für jene Menschen, die auf der Schattenseite bzw. am Rand des sozialen Ganzen stehen.

Christliche Sozialethik kann die Fragen des menschlichen Zusammenlebens in Gesellschaft nicht angemessen bearbeiten, ohne mit anderen Wissenschaften ins Gespräch zu treten, die sich ebenfalls mit dem Menschen und mit seiner Lebenswelt, mit den sozialen Institutionen und ihren Funktionsgesetzen befassen. Je nach konkretem Gegenstand kommen viele Fächer als Gesprächspartner und Erkenntnisquellen der Sozialethik in Frage: Soziologie, Politikwissenschaften, Friedens- und Konfliktforschung, Ökonomie, Pädagogik, Technik- und Umweltwissenschaften, Medizin und Biowissenshaften, Sozialpsychologie u. a. m. Einerseits geht die christliche Sozialethik bei diesen Wissenschaften in die Schule, um geeignete Instrumentarien für die Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge und Prozesse kennen zu lernen und für sich fruchtbar zu machen. Andererseits kann sie ihnen mit ihrer ethischen Frageperspektive auch einen eigenen Beitrag zur Wahrnehmung und Deutung herausfordernder Situationen und zur Lösung gesellschaftlicher Probleme anbieten (dieser Text basiert auf: Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Christliche Sozialethik: ein Lehrbuch. Band 1: Grundlagen. Regensburg: Pustet 2004, 7-8).

Christliche Sozialethik befasst sich sowohl mit Grundlagen, d. h. mit philosophischen sowie theologischen Ethikbegründungen, Methoden, allgemeinen normativen Orientierungen u. ä., als auch mit einem breiten Spektrum anwendungsorientierter ethischer Forschung in den Feldern politische Ethik, Rechtsethik, Wirtschaftsethik, Umweltethik, Familienethik, Bildungsethik, Medienethik, Ethik des Gesundheitswesens, Sozialethik des kirchlichen Lebens etc.

Einblick in die aktuellen Forschungsschwerpunkte und -projekte der Direktorin und der Mitarbeiter:innen des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften gewinnen Sie in der Beschreibung unserer Forschungsschwerpunkte und -projekte sowie in den ICS-Tätigkeitsberichten (siehe rechte Seite).

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