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„Wir können beobachten, wie Strom in Zellen fließt."

Im Labor mit Prof. Sven Meuth / Interviewreihe des Exzellenzclusters "Cells in Motion"
Prof. Dr. Dr. Sven Meuth, Neurologe am Universitätsklinikum Münster und Mitglied des Exzellenzclusters "Cells in Motion"

Herr Prof. Dr. Meuth, mit welcher wissenschaftlichen Frage beschäftigen Sie sich aktuell?

Ich erforsche die Ursache der Multiplen Sklerose. Bei der Krankheit gelangen Immunzellen vom Blutkreislauf ins Gehirn. Das wäre nicht problematisch, wären diese Immunzellen nicht falsch programmiert. Eigentlich sollen sie fremde Krankheitserreger ausschalten. Bei MS-Patienten greifen sie aber eigene, gesunde Zellen an. Verrückterweise stürzen sie sich nur auf bestimmte Teile des Gehirns, etwa den Sehnerv oder das Rückenmark. Der Hörnerv dagegen ist etwa nie betroffen. Wir fragen uns, warum? Wir gehen davon aus, dass es an der falschen Programmierung der Immunzellen liegt. Und daran, dass Nervenzellen der betroffenen Regionen diese besonders anlocken. Alle Nervenzellen schütten Substanzen aus. Vielleicht sind die Substanzen des Sehnervs ja besonders schmackhaft? Das ist ihre Art zu kommunizieren. Wir wollen eben diese Kommunikationswege von Nerven- und Immunzellen genau verstehen.

Was macht Sie als Wissenschaftler persönlich aus?

Ich bin in Hessen aufgewachsen und habe in Magdeburg, Basel und Dallas, USA, sowohl Neurowissenschaften als auch Medizin studiert. Meine Facharztausbildung habe ich in Würzburg bei der Neuroimmunologie-Koryphäe Klaus Toyka gemacht. Seit einigen Jahren arbeite ich nun in Münster am Universitätsklinikum und lebe hier mit meiner Frau und unseren zwei Kindern.

Was ist Ihr großes Ziel als Wissenschaftler?

Ich würde gern die neurodegenerativen Mechanismen der Multiplen Sklerose aufschlüsseln, also verstehen, welche Mechanismen für die fortschreitende Anteile dieser Erkrankung des Nervensystems verantwortlich sind. Mein Traum ist es, eine Substanz zu finden, die wir MS-Patienten als Medikament geben können und die verhindert, dass schädigende Immunzellen ins Gehirn gelangen und dort den Untergang von Nervenzellen und Nervenfasern auslösen. Ein solches Medikament gibt es bereits von Kollegen aus der Wissenschaft. Sie haben Tysabri, wie das Medikament heißt, auf dem Markt gebracht. Es wirkt beeindruckend. Ich würde gerne ein Medikament entwickeln, dass individueller auf Patienten zugeschnitten ist.

Was ist Ihr liebstes technisches „Forschungsspielzeug“ und was kann es?

Ich arbeite im Labor mit wahnsinnig aufregender Technik. Besonders spannend wird es, wenn wir verschiedene Techniken kombinieren. Wir sind so in der Lage, eine Fragestellung von einer einzelnen Zelle bis zum Gesamtorganismus zu verfolgen und können unter anderem beobachten, wie Strom in Zellen fließt.

Erinnern Sie sich an Ihren größten Glücksmoment als Wissenschaftler?

Der war im Jahr 2013, als ein Paper unseres Forschungsteams in der Nature Medicine veröffentlicht wurde. Solche Veröffentlichungen verschaffen unserer Forschung mehr Aufmerksamkeit. Für uns Wissenschaftler fühlt sich das toll an. Die Veröffentlichung hebt unsere Forschungsprojekte in eine andere Liga der Wissenschaft. Damit ist offiziell: Man liegt mit seinen Ideen nicht ganz falsch, und die 15 Jahre Forschung waren gut investiert. Die größere Aufmerksamkeit hat auch einen positiven Nebeneffekt. Kollegen und Geldgeber nehmen uns anders wahr.

Und wie sah Ihr größter Frustmoment aus?

Eigentlich bedeutet jeder abgelehnte Antrag, jedes abgelehnte Paper zunächst Frust. Eine renommierte Veröffentlichung öffnet eben doch nicht jede Tür. Meiner Meinung nach könnten auch Begutachtungsverfahren mehr Transparenz vertragen. Das wissenschaftliche Arbeiten macht mir gerade in der Verbindung mit der Patientenversorgung wahnsinnig viel Spaß. Die Frustrationsmomente gehören wie in jedem Job einfach dazu.

Auf welche große ungelöste wissenschaftliche Frage hätten Sie gern eine Antwort?

Ich würde gern wissen, ob Ärzte eines Tages von der heute gängigen diagnostischen Medizin abkommen und zur personalisierten Medizin greifen. Aktuell diagnostizieren wir eine Krankheit bei einem Patienten und behandeln ihn dementsprechend. Alle Patientengruppen einer bestimmten Diagnose werden demzufolge etwa gleich behandelt. Vielleicht legen wir irgendwann dieses „pauschale Vorgehen“ ab und blicken ausschließlich auf die individuelle Ursache einer Krankheit. Dann würden wir zum Beispiel eine Entzündung im Körper behandeln, egal ob sie zu einem Schlaganfall geführt oder MS ausgelöst hat.